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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 6.1895

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Schmid, M.: Das Hundertguldenblatt
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https://doi.org/10.11588/diglit.5782#0088

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163

Das Hundertguldenblatt.

164

Ist es zu kühn, an Christi Worte zu denken:
„Lasset die Kindlein zu mir kommen, und wehret
ihnen nicht?" Dann könnte also Kembrandt bei
dem Entwürfe dieses Blattes eine bestimmte Scene
des neuen Testamentes, ja eine bestimmte Stelle im
Auge gehabt haben.

Vermutlich ist es die Lektüre von Matthäus,
Kap. XIX, welche die erste Anregung gegeben hat.
Vergleichen wir Bild und Text. Da lesen wir, wie
Christus aus Galiläa über den Jordan zog. Vers 2
berichtet: „Und es folgte ihm viel Volks nach, und
er heilte sie daselbst". Wir finden diese Heilung
suchenden Kranken bekanntlich auf der rechten Seite
des Bildes, und es scheint, dass die gelungenen Hei-
lungen neue Scharen Hilfsbedürftiger, Hoffender
anlocken.

Dann traten zu ihm die Pharisäer (V. 3). Sie
fragen ihn um seine Meinung von der Ehescheidung
und halten ihm boshaft vor, wie er sich in diesem
Punkte mit Moses in Widerspruch setze. Auch die
Jünger mischen sich ins Gespräch.

Christus aber weist die Pharisäer hart zurück, !
und so sehen wir sie denn auf dem Bilde zur Seite
stehen, missgünstig ihn beobachtend, oder (oben
links) über die Zurückweisung discutirend.

Endlich bringt man Kindlein zu Christus, dass
er die Hände auflege und bete (V. 13). Die Jünger
fahren sie an, Christus aber wehret ihnen, „legte
die Hände auf sie und zog von dannen (V. 15)".

Ist es also gewagt, anzunehmen, dass Rembrandt,
der zweifellos ein guter Bibelkenner und wohl auch j
ein fleißiger Bibelleser war, seine Anregung zum
Hundertguldenblatt aus dem neunzehnten Kapitel
des Matthäus schöpfte? Mir scheint, er hat die Motive
dann frei genug verwertet. Er hat die drei Ereig-
nisse zu einer einheitlichen Handlung verbunden, wie
es für einen solchen Künstler, der auch Schützen-
stücke zu lebendigen Bildern umzugestalten wusste,
selbstverständlich ist.

Dennoch, die Dreiteilung bleibt auch noch rein
äußerlich wahrnehmbar im Bilde. Rechts die Kran-
ken, in der Mitte Christus und die Frauen, links die
Pharisäer.

Und die Männer, die so still und feierlich ein-
fältig hinter Christus stehen, und der Mann, der links
von der Frau sitzend so andächtig Christi Worte be-
lauscht? Das sind weder heilungersehnende Kranke,
noch zweifelnde, spottende Pharisäer. Was dann?
Die Jünger? — Die Jünger werden ja ausdrücklich
im Matthäus als anwesend erwähnt. Auch wäre
seltsam, wenn sie in diesem Stadium von Christi

Wirksamkeit nicht neben ihm dargestellt wären.
Es wäre das so auffallend, dass man eher beweisen
müsste, dieses Gefolge hier stelle nicht Christi Jünger
dar, als dass man nachzuweisen hätte, es seien die
Apostel.

Zwei der Apostel glaube ich nun mit einiger
Wahrscheinlichkeit nachweisen zu können. Rem-
brandt als Protestant giebt den Jüngern natürlich
keine Symbole. Als Protestant wird er auch kaum
darauf gesonnen haben, sie sämtlich nach ihrem
Charakter zu unterscheiden, der ohnedies von der
Mehrzahl ihm nicht recht bekannt war. Dem Pro-
testanten treten allenfalls Petrus und Johannes als
individuelle Charaktere aus der Schar der Apostel
entgegen. Petrus führt auch im oben zitirteu
Matthäuskapitel weiterhin das Wort, und seiner
heftigen Natur traut man es überdies zu, dass er es
war, der die Frauen von Christus zurückwies. Ihn
möchte man also in dem Manne vermuten, der zwischen
Christus und die Frau tritt. Dann müsste der sanft-
blickende, bartlose, lockenumwallte Jünger, der zu
Christi Füßen sitzt, Johannes sein?

Vergleichen wir die Darstellungen beider Apostel
auf anderen Radirungen Reinbrandts! In der Ra-
dirung „Petrus und Johannes an der goldenen Pforte
des Tempels" (B. 94) ist Petri Antlitz als das eines
ältlichen Mannes mit hoher, kahler Stirn, mit Stumpf-
nase, mit etwas wirrem, hellem (grauem?), kurzge-
haltenem Vollbarte gebildet. Ebenso auf B. 95 und
B. 96.

Johannis Antlitz ist auf jenem Bilde der Apostel-
geschichte leider zum Teil durch den Mantel ver-
hüllt, doch scheint er bartlos und mit langwallendem
Haare gedacht zu sein, wie es auch auf B. 95 dar-
gestellt ist.

Danach ist es leicht, die beiden Jünger auf der
übrigens typologisch so interessanten Radirung des
Todes der Maria (B. 99) wiederzufinden. Petrus steht
hier zu Häupten der Madonna, der er das Kopfkissen
hebt. Johannes steht wehklagend, mit ausgebrei-
teten Armen neben der knieenden Frau am Fußende
des Bettes.

Johannes findet sich ferner in ähnlicher Haltung
auf den „drei Kreuzen (B. 78)", und zwar steht er
in den ersten Zuständen des Blattes rechts vom
Kreuze, sich die Haare raufend. Im vierten Etat ist
er dann seinem Charakter entsprechend ') gemildert
und mit zur Klage erhobenen Händen gezeichnet.

1) Herr Dr. Sträter hatte die Freundlichkeit, mich dar-
auf aufmerksam zu machen.
 
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