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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 15.1904

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Vierter Tag für die Denkmalpflege in Erfurt: Fortsetzung
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https://doi.org/10.11588/diglit.5900#0034

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Vierter Tag für Denkmalpflege in Erfurt

Das alte Haus kann der neuen Fluchtlinie an-
gepaßt werden, wenn man die neue Linie etwas vor-
oder rückwärts schiebt und dann einem zurückliegenden
alten Bau eine Vorhalle vorbaut, ein vortretendes
altes Haus aber im Erdgeschoß in der Breite des
Bürgersteigs durchbricht, also eine Durchgangslaube
im altdeutschen Sinne herstellt. Dadurch wird ge-
gebenenfalls das Straßenbild bereichert, dem Verkehrs-
bedürfnis abgeholfen. Eine sehr harte, aber auch
mögliche Maßregel ist, die alte Schauseite abzubrechen
und in die neue Fluchtlinie zu setzen. Die lauben-
artige Durchbrechung ist jüngst sehr hübsch beim
alten Rathause zu Oberlahnstein angewendet und für
den alten Hessenhof in der Marzellenstraße zu Köln
vorgeschlagen worden.

3. Die Veränderung der Höhenlage der Straße an den
in Rede stehenden Baulichkeiten ist nur dann statt-
haft, wenn überwiegend starke Gründe des Verkehrs,
des Hochwasserschutzes und ähnlicher Art (Eisen-
bahn- und Wasserbauten) eine andere Lösung aus-
schließen. Auch in diesem Falle ist von vornherein
zu untersuchen, in welcher Weise der alte Bau der
neuen Höhenlinie angepaßt werden kann.

Bei Senkung der Umgebung werden alte wichtige
Bauten in den Fundamenten gefährdet und sie
können an den Eingängen und Sockeln Schaden leiden.
Noch empfindlicher pflegt aber die Benachteiligung
zu sein bei Erhöhung der Straßenfläche. Ein auf
solche Art gewissermaßen versunkenes oder ein-
gegrabenes Haus oder Stadttor wirkt wahrhaft traurig
und hilfeheischend. So hat eine theoretische Hoch-
wasserlinie, eine vermeintliche Nivellementsverschöne-
rung manchem alten Bau das Leben gekostet. Denn
ein einmal eingegrabener Bau hat nicht bloß einen
Teil seiner Schönheit eingebüßt, sondern er ist zu-
gleich so vielen Nachteilen des Wasserzulaufes, der
Verdunkelung und Verschmutzung ausgesetzt, daß
der Eigentümer und die sogenannte öffentliche Mei-
nung leicht auf Beseitigung des Gebäudes dringen.
(Ein solcher Fall liegt beim Huttenschlößchen, einem
zierlichen Rokokobau in Würzburg, jetzt vor, wo
Baurat Orässel, München, eingeschritten ist.) Ge-
dankenlose Einebnungen (Beseitigung von Erhöhungen
oder Vertiefungen) können zur Vernichtung von
Festungsgräben, Wällen und Zugbrücken führen, die
möglicherweise ganz gut erhalten bleiben können,
wie dies in Köln, Nürnberg und Brügge (hier auf
Stübbens Vorschlag) geschehen ist. Gräben, die man
erhält, müssen freilich auch dauernd in gutem Zu-
stande erhalten bleiben, damit sie nicht als Pfützen
und Verkehrshindernisse der Geringschätzung verfallen.

4. Die neuen Baufluchtlinien sind nach Möglichkeit so
festzusetzen, daß nicht bloß die in Rede stehenden
Baulichkeiten dauernd vor Benachteiligung geschützt,
sondern auch die Eigenart alter Straßenzüge er-
halten wird. Auf die Durchführung gerader Flucht-
und Höhenlinien ist, wenn in dem einen oder
anderen Sinne Schädigungen zu befürchten sind, zu ver-
zichten. Gekrümmte Straßenrichtungen und Straßen-
wendungen, sowie charakteristische Höhenunter-
schiede sind überhaupt bei Feststellung neuer, zur

Verbreiterung und Verbesserung von Straßen be-
stimmter Fluchtlinien nach Möglichkeit beizubehalten.
5. DieGeschlossenheitalterStraßen-und Platzwandungen
ist auch bei Festlegung der für den Verkehr er-
forderlichen Erbreiterungen und Durchbrechungen
nach Möglichkeit zu schonen (Beispiele: Rom, Brüssel,
Nürnberg, München, Köln).

Im Straßennetz alter Städte sieht man fast überall
die Unregelmäßigkeiten eines ehemaligen Dorfgrund-
risses oder einer allmählich gewachsenen Burg-
umgebung oder kirchlichen Niederlassung. Kunst-
geübte Jahrhunderte im späteren Mittelalter und in
der Renaissancezeit haben auf Grund dieser Unregel-
mäßigkeiten durch Bauen und Bilden, Abbrechen und
Erneuern, Verändern und Ausgestalten jene schönen
und anmutenden Stadt-, Platz- und Straßenbilder
hervorgebracht, deren gänzlichen Verlust wir ver-
meiden möchten.

Man darf nicht gekrümmte alte Straßenzüge, ge-
krümmt in ihrer Hauptrichtung und abweichend
davon gekrümmt in den Hausflucliten, dadurch ver-
bessern wollen, daß man die Richtungen und Fluchten
begradigt, daß man die seitlichen Fluchten ausfüllt
und alle Buckel abschneidet. Der Verkehr bedarf
keiner mathematisch geraden Linien. Er bedarf der
nötigen Breitenentwickelung unbedingt und der Er-
mäßigung der Steigungen, soweit es tunlich ist; das
wichtigste aber ist die Übersichtlichkeit.

Nun ist aber eine Straßenfläche bei leichter
Krümmung ihrer Richtung und bei leichter Mulden-
form ihrer Höhenlage übersichtlicher als bei völlig
gerader Richtungs- und Gefällslinie. Im letzteren
Falle verdecken die vorderen Gegenstände die hinteren
weit mehr, als bei der schlanken Bogenform, welche
veranlaßt, daß die vorderen Gegenstände sich gegen-
über den hinteren verschieben und so nicht bloß ein
reicheres Straßenbild an sich gewähren, sondern auch
den Verkehr übersichtlicher gestalten. In einer schwach
gekrümmten Straße braucht ein Kutscher sich nicht
so oft zur Seite zu beugen, um den Fahrweg zu
überblicken, und das herrliche Bild leicht mulden-
förmiger langgedehnter Straßen, auf deren Fläche man,
vom oberen Ende hinschauend, den ganzen Verkehr
an Menschen und Fuhrwerken klar ausgebreitet sieht,
ist bekannt. Gerade Straßen- und Gefällsrichtungen
sollen keineswegs unbedingt bekämpft werden, aber
ein schwerer und leider oft begangener Fehler ist es,
diese harten geraden Linien zwangsweise einzuführen
in die oft so reizvolle Unregelmäßigkeit alter Stadt-
teile.

Die Erhaltung der Geschlossenheit der Straßen -
und Platzwandungen bei gleichzeitiger Förderung des
Verkehrs beansprucht sehr große Aufmerksamkeit und
macht oft große Schwierigkeiten. Der Verkehr ver-
langt offenen Durchblick, für das Straßen- und Stadt-
bild aber ist in der Regel die Geschlossenheit vor-
zuziehen, besonders in mittelalterlichen Städten. Öffnet
die Gassen, ruft der Verkehrstechniker; schließt den
Rahmen, ruft der künstlerisch empfindende Be-
obachter. Wie der glänzende Fernblick charakteristisch
ist etwa für eine moderne Stadt wie Paris, so sind
 
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