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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 15.1904

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Vitry, Paul: Die Ausstellung der altfranzösischen (primitiven) Malerei in Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.5900#0178

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Die Ausstellung der altfranzösischen (Primitiven) Malerei in Paris

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Wert, wie so viele andere, deren man sich in der
Geschichte bedient, z. B. die Bezeichnung gotisch.

Man wird also für diese Ausstellung nicht zurück-
greifen auf die wahrhaften Quellen französischer Kunst,
nämlich auf die Periode fruchtbaren Schaffens im

12. Jahrhundert, die in Frankreich sowohl in der
Architektur, in der Skulptur, auf dem Gebiet des
Kunstgewerbes, wie auch auf dem der Monumental-
und Miniaturmalerei eine so lebendige, für die Zu-
kunft so vielversprechende Kunstblüte hervorbrachte.
Man wird auch nicht versuchen, ein Bild von der
glanzvollen Tätigkeit der französischen Kunst im

13. Jahrhundert zu geben. Auch in dieser Hinsicht
ist bereits eine Darlegung gegeben worden, und nie-
mand bestreitet mehr die Größe und historische
Wichtigkeit der Werke der französischen Architekten,
Bildner, Goldschmiede, Emailleure und Illuministen.

Man wird bloß versuchen, die Kunst jener Epoche,
welche der uns hier beschäftigenden unmittelbar vor-
ausging, durch einige Probestücke ersten Ranges dar-
zustellen, damit sogar das große Publikum, sogar der
wenigst unterrichtete Besucher den klaren Eindruck
empfange, daß die Kunstströmungen des 14. und des
15. Jahrhunderts, die hier unter einem ihrer charak-
teristischsten Gesichtspunkte vorgeführt werden sollen,
als Ausgangspunkt, als gewisse Basis schon über eine
vollständige und vollendete Kunstübung verfügten,
welche fähig war, Kunstwerke voll Plastik und Aus-
drucksfülle hervorzubringen; wie etwa jene kleine,
Herrn Georges Hoentschel gehörige, seither unveröffent-
lichte Statue in Goldschmiedearbeit, die unlängst
in Bourges auftauchte und einen stehenden König
mit gefalteten Händen darstellt; oder wie jene Elfen-
beingruppe der Verkündigung — deren zwei Statuen
Eigentum zweier Kunstfreunde in Paris, der Herren
Chalandon und Garnier sind — welche schon in der
retrospektiven Ausstellung von 1900 figurierte; ebenso
gewisse, durch besondere Umstände vereinzelte Bruch-
stücke von dem herrlichen Ensemble der Skulpturen
des Doms zu Reims.

Selbst für die Bewanderten sind diese Rückblicke
nicht nutzlos, weil sie auf das Verständnis dessen
vorbereiten, was man nach und nach ins rechte Licht
zu setzen sucht, nämlich die hervorragende künst-
lerische Wirksamkeit des französischen und besonders
des pariserischen Geistes während des 14. Jahrhunderts.
Es gab in jener Zeit dort in voller Tätigkeit befind-
liche Künstlerwerkstätten, man hatte Kunsttraditionen,
die sich wohl umgestalteten, die sich aber auf eine
beträchtliche Menge von Kunstwerken stützten, deren
Zahl und Art gleich erheblich war. Es gab ferner
eine Menge ikonographischer Typen und Aufgaben,
mit denen die Künstler der neuen Generation weiter
arbeiteten, indem sie sie mit neuem Geiste erfüllten.
Man besaß hauptsächlich während der Dynastie der
Valois eine Reihe kunst- und prachtliebender Fürsten,
große Bauunternehmer und große Liebhaber von
Büchern und wertvollen Gegenständen; vor allem
Johann der Gute, dessen in der Bibliotheque nationale
aufbewahrtes Porträt eines der ersten und der aus-
drucksvollsten Stücke der Ausstellung bilden wird;

dann seine Söhne, König Karl V. mit seinen Brüdern
den Herzögen von Berry, Anjou und Burgund, welche
aufgeklärte und freigebige Mäcene waren. In diesem
Milieu entfaltete sich eine von der des 13. Jahrhunderts
ziemlich verschiedene Kunst, trotzdem sie aus jener
entsprang, und von der manches Erzeugnis, besonders
der Bildnerkunst in Reims, schon um die Zeit des
Todes Ludwigs des Heiligen einen neuen Geist an-
kündigte; ein Geist, dem es mehr um Wahrheit als
um Stil zu tun war, der mehr nach individueller und
dramatischer Ausdrucksweise als nach reinem Linien-
und Formenadel strebte. Diese realistische Kunst ist
es, um sie gleich bei ihrem Namen zu nennen, welche
am Hofe der Valois unter den Händen von Künstlern,
die Franzosen waren durch Geburt oder durch Er-
ziehung, blühte. Denn es liegt wenig daran, ob wir
unter Karl V. der Wirksamkeit z. B. eines Jean
de Bruges oder eines Beauneveu de Valenciennes be-
gegnen, wenn nur erwiesen ist, daß sich diese Künstler
in der Pariser Umgebung bildeten, wenn von ihrer
Tätigkeit in ihrem Geburtsland nie Erwähnung ge-
schieht und ganz besonders wenn es unmöglich ist,
in diesem Land irgend ein charakteristisches Kunst-
produkt aufzuweisen, das geeignet gewesen wäre,
einen Einfluß auf die Entwickelung jener Künstler
auszuüben. Raymond Koechlin1) hat unlängst eine
äußerst bezeichnende Untersuchung im Hinblick auf
die Bildhauerkunst unternommen, wobei er den
Quellen jenes Realismus nachging, der angeblich
durch flandrische Künstler eingeführt worden sein
soll, die nach Frankreich kamen, um dort zu ar-
beiten. Er konnte dabei vor dem Ende des 14. Jahr-
hunderts absolut nur Werke französischer Inspiration
und ohne jede besondere Bedeutung in Bezug auf
die Herausbildung einer modernen Kunst finden.
Und offenbart das Fehlen von Werken des 14. Jahr-
hunderts auf der Ausstellung in Brügge, ihr Mangel
an eignen Kennzeichen nicht dieselbe Tatsache? Wir
hoffen nun, sei es in Bezug auf die Malkunst oder
die Kleinkunst, oder in Bezug auf die nach den
Kartons der gleichen Künstler ausgeführten Tapisserien,
in der Pariser Ausstellung eine gewisse Anzahl von
Werken zusammenstellen zu können, wie das Porträt
von Johann dem Guten, von welchem wir soeben
sprachen, das Parement von Narbonne des Louvre,
die Tapisserien der Apokalypse aus Angers u. s. w.,
welche den wahren Charakter dieser Kunst feststellen
werden, die ihrer Produktion nach etwas kosmo-
politisches — meinetwegen franko-flandrisches — hat,
die aber französisch ist durch die Traditionen, in
denen sie wurzelt und durch das Milieu, in welchem
sie zur Entfaltung kam. Dieser Gruppe von Kunst-
werken müßte ein sehr wichtiges Diptychon eingereiht
werden, das aber England leider nicht verlassen kann,
nämlich das des Grafen Pembroke, den König
Richard IL darstellend, ebenso wie eine ganze Serie
von Gemälden mit Goldgrund, von denen verschie-
dene mit der Kollektion Carrand in den Bargello

1) La sculpture beige et les influences francaises aux
XHIe. et XlVe siecles. Gazette des Beaux-Arts. 1903. ,
 
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