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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — N.F. 15.1904

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Vitry, Paul: Die Ausstellung der altfranzösischen (primitiven) Malerei in Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.5900#0179

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Die Ausstellung der altfranzösischen (Primitiven) Malerei in Paris

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von Florenz, andere mit der Kollektion Micheli nach
Antwerpen gekommen sind. Diese Paneele werden
gewöhnlich und ohne jeglichen Nachweis Broederlam
zugeschrieben, weil Broederlam einer der wenigen
Flamländer ist, deren Namen aus jener Epoche be-
kannt sind. Schließlich ist noch beiläufig zu be-
merken, daß Broederlam, der sich in Ypern aufhielt,
durch Paris gekommen war, und daß er hier in
einem der Ateliers, von welchen wir vorhin sprachen,
die Bestellung erhielt für die einzigen Gemälde, die
man ihm mit Sicherheit zusprechen kann, nämlich
die Flügeltüren des Altars in der Karthause zu Dijon.

Aus diesen französischen Ateliers, in welchen, in
Paris oder in Bourges, auch die berühmten Gebrüder
von Limburg, die Miniaturisten des Herzogs von
Berry und nahezu Landsmänner der Gebrüder van
Eyck, arbeiteten, gingen die Kunstprinzipien hervor,
welche in den großen selbständigen und ursprüng-
lichen Schulen des Nordens, jedoch erst ungefähr
vom Jahre 1415 oder 1420 an, zu so herrlicher Ent-
faltung kamen.

Was wurde während dieser Zeit aus der franzö-
sischen Kunst? Obwohl ihre Tätigkeit sehr durch
das Elend des hundertjährigen Krieges herabgedrückt
war, behauptete sie sich trotzdem nicht nur in Burgund,
wo sie sehr durchsetzt wurde von flandrischen Ele-
menten, sondern auch in verschiedenen Provinzen, die
mehr oder weniger verschont geblieben waren von
den Schrecken des Krieges und des feindlichen Ein-
falles, namentlich von der Loire, wo sich die franzö-
sischste aller Schulen des 15. Jahrhunderts bildete,
und wo nun die Zeit von 1415 oder 1420 der
größte französische Maler jener Epoche auftauchte,
Jean Fouquet. Seinerzeit berühmt und gelobt selbst
von gewissen Italienern, welche ihn kannten, geriet
er doch vollständig in Vergessenheit, sein Werk
wurde zerstört oder verstreut. Seit fünfzig Jahren
ungefähr arbeitet die historische Kritik daran, die
Geschichte seines Lebenslaufes zu rekonstituieren und
das Werk Fouquets wiederzufinden. Alles, oder
doch nahezu alles, was man bis jetzt von ihm kennt,
wird in der Ausstellung vertreten sein, denn in
liebenswürdiger Bereitwilligkeit, von welcher wir
schon im Jahre 1900 uns zu überzeugen Gelegenheit
hatten, hat Deutschland zugesagt, uns den einen
Flügel des Diptychon zu senden, welcher den Etienne
Chevalier mit seinem Patron darstellt und sich jetzt im
Museum von Berlin befindet; Belgien wird den anderen
Flügel dazugeben, welcher eine säugende Madonna
mit den Zügen Agnes Sorels darstellt und jetzt im
Museum von Antwerpen ist. Neben diesem berühmten
wiederzusammengestellten Diptychon von Melun,
werden die Porträts aus dem Louvre, dasjenige aus
der Sammlung des Prinzen von Liechtenstein in
Wien figurieren, und noch mehrere, dessen eines schon
durch W. Bode für den Meister von Tours in Anspruch
genommen wurde, und die gewiß nicht zu den
geringsten Anziehungspunkten der Ausstellung ge-
hören werden.

Die Nachfolge Fouquets und der großen Schule
von der Loire wird vorzüglich repräsentiert durch das

Triptychon von Loches und dasjenige von Moulirs,
wo der noch recht herbe Naturalismus des Meisters
mäßiger wird und übergeht in ein Streben nach
Anmut und Gefühl, das dem Ende des 15. Jahr-
hunderts sehr eignet. Neben diesem Triptychon von
Moulirs werden die Werke jenes noch anonymen
Meisters Platz finden, dessen Hauptwerk es ist, und
den man deshalb den Meister von Moulirs nennt.

Allein außer der Schule von der Loire muß man,
in dem vielfältigen Entwickelungsgang der franzö-
sischen Kunst im 15. Jahrhundert, noch vieler
anderer Schulen Rechnung tragen, namentlich der
Provinzialschule, deren Werke sich in ziemlich großer
Anzahl in Avignon und in Aix erhalten haben und
von denen einige, dank verschiedener glücklicher
Zusammentreffen in den Archiven ihren Urhebern
zugesprochen werden konnten. Der brennende Dorn-
busch von Aix von Nicolas Froment und die Krönung
der Jungfrau von Villeneuve - les - Avignon von
Enguerrand Charonton zum Beispiel. Allein andere,
die noch anonym sind, sind darum nicht weniger
wertvoll und interessant. Zu diesen gehören die
Verkündigung von Aix und der heilige Siffrein von
Avignon, welche zwei Stücke erster Ordnung bedeuten
und würdig sind allem gleichgestellt zu werden, was
die Kunst des 15. Jahrhunderts Schönstes hervor-
gebracht hat.

In anderen Gegenden entstanden ebenfalls Schulen,
welche mehr oder weniger beeinflußt wurden von
der Kunst der Nachbarländer. Der Norden Frank-
reichs empfand offenbar die Nähe von Flandern.
Allein der französische Charakter spricht trotzdem
noch sehr deutlich z. B. aus den Werken eines Simon
Marmion von Valenciennes oder aus jenen Werken,
welche man ihm zuschreibt; denn wir haben es hier
wieder mit einem ehemals sehr renommierten Künstler
zu tun, dessen Andenken sich merkwürdigerweise
verwischt hat.

Es wäre allzu kühn, wollte man im Voraus ur-
teilen über die Ergebnisse eines kritischen und ver-
gleichenden Studiums, zu welchem die Ausstellung
Gelegenheit bieten wird. Sie kann Anlaß geben zu
vielen Diskussionen über den Ursprung und den
genauen Charakter gewisser wenig bekannter und bis
jetzt schlecht studierter Werke. Es figurieren übrigens
viele Werke bloß als Vergleichsstücke, allein wir sind
trotzdem der Überzeugung, daß eine Zusammenstellung
von Werken dieser Art, wie sie zum erstenmal unter-
nommen wird und die wir dem Wissen und der
Tatkraft Henri Bouchots, des Konservators des Kupfer-
stichkabinetts der Bibliotheque nationale verdanken,
der in geistreicher Weise die Initiative dazu ergriffen
hat, — den kunstgeschichtlichen Studien einen großen
Dienst erweisen wird, indem sie Gelegenheit bietet,
einen bisher allzu leicht verkannten Zweig der
französischen Kunst Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen, dadurch daß sie den eigentümlichen Charakter
der Erzeugnisse der französischen Schule des 14. und
des 15. Jahrhunderts beleuchtet und das Interesse
und die Lebensfähigkeit dieser Schule dartut, die sich
sogar während des Eindringens der klassischen
 
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