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DER ENTWICKLUNGSGANG DER MODERNEN KUNSTSTICKEREI
seelischen Existenzbedingungen der ausführenden Kräfte
anpassen. Es würde aber nicht angehen, die aus-
führenden Kräfte in der Stickkunst nun auf die gleichen
Existenzbedingungen setzen zu wollen. Bei den Scherre-
becker Arbeiten, wie in der Teppichknüpferei handelt
es sich um Techniken, die sich als Hausindustrie in
Deutschland erst neu einleben sollen und über deren
zukünftigen Entwicklungsgang- heute noch kein ab-
schliessendes Wort gesprochen werden kann. Unsere
deutschen Stickerinnen aber stehen auf einer nahezu
beängstigenden Höhe der technischen Geschicklichkeit.
Diese ihre Geschicklichkeit ist, wie in so manchen
andern kunstgewerblichen Zweigen, der Ruin des see-
lischen Arbeitsgehaltes geworden. Aller Kraftaufwand
ist einseitig und rein äusserlich verwertet worden.
Man hat sich in die Vorstellung eingelebt, dass Sticken
«Handarbeit" ist. Daher steht das Laienpublikum den
Arbeiten, die Erau Dernbarg und Fräulein Seliger
nach Entwürfen ihres Bruders ausgeführt haben, völlig
verständnislos gegenüber. Man fragt, wie das gemacht
ist, ohne eine Ahnung davon zu haben, dass es auch
hier eine „Seele des Materials" zu betrachten giebt.
Daneben aber erhebt die streng moderne Kritik den
Einwand, dass man es hier nicht mit eigentlich mo-
dernen Sachen zu thun hätte, sondern mit unselbstän-
digen Anlehnungen an überkommene Formen. Dieser
Einwurf kann aber nur von einer Seite her erfolgen,
wo es an jeglichem Verständnis für die Lebensbe-
dingungen und die Aufgaben der Stickerei im modernen
Leben fehlt. Denn die Stickerin, die heute im Kampf
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Holzschnitzereien ari einer Thür, ausgeführt von Bildhauer Rieoelmann, Berlin.