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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 9.1898

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Volbehr, Theodor: Die Reflexe des Zeitcharakters in den Möbelformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4886#0205
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Entwurf zu einer Tapeteiiborte von Oscar Störmer, Dresden.

DIE REFLEXE DES ZEITCHARAKTERS IN DEN

MÖBELFORMENJ)

VON TU. VOLBEHR-MAGDEBURG

IN den Kreisen der Künstler beginnt man, die
kunsthandwerklichen Leistungen der Gegenwart
höher einzuschätzen als man es noch vor kurzem
that; in den Kreisen der Laien aber steht man den
schönen neuen Dingen zum grossen Teile noch sehr
skeptisch gegenüber, skeptischer als man nach den
Artikeln der Presse glauben sollte. Wundern kann man
sich darüber nicht, denn es ist in den letzten Jahr-
zehnten so viel über das allein Schöne und über den
wahren Geschmack in Journalen und von der Redner-
bühne orakelt worden, dass auch in disciplinierteren
Köpfen eine ziemliche Verwirrung entstanden ist. Was
in aller Welt soll sich ein Freund des Schönen dabei
denken, wenn ihm heute eine Epoche als Zeitalter
des guten Geschmacks geschildert wird und es mor-
gen Hohn und Spott auf den Ungeschmack derselben
Zeiten herabregnet, wenn heute „unserer Väter Werke"
als kostbare Muster empfohlen werden, morgen von
dem Fluch unserer antiquarischen Neigungen ge-
sprochen wird?

1) Nach einem im deutschen Kunstgewerbeverein zu
Berlin am 13. Oktober 1897 gehaltenen Vortrage.

Kunstgewerbeblatt. N. F. IX. H. H.

Ich blätterte kürzlich in einigen Erörterungen
über das Kunsthandwerk des 18. Jahrhunderts. Da
fand ich bei einem Autor den Satz: „Unsere Vor-
eltern waren nicht im Besitz dieser schönen Erfin-
dungen (Elektricität etc.), aber dafür besassen sie
hundertmal mehr Geschmack als wir"; ein zweiter
Autor hatte geschrieben: „Keine Epoche der Kultur-
geschichte hat so viel Geist aufgewendet wie das 1 S.Jahr-
hundert und in keiner vielleicht ist davon so wenig
der Kunst zu gute gekommen." Also ein Zeitalter,
das hundertmal mehr Geschmack besass als unsere
Zeit besitzt, hat in der Bethätigung dieses Geschmacks
weniger Geist aufgewandt als irgend eine andere
Zeit, z. B. als die unsrige! Man braucht keine tief-
sinnigen Erörterungen über die Begriffe „Geschmack"
und „Geist" anzustellen, um zu erkennen, dass hier
in den Anschauungen zweier Kunsttheoretiker ein
klaffender Widerspruch vorhanden ist. Und solcher
Widersprüche findet man beim Durchblättern der
Anschauungen über das Einst und das Jetzt kunst-
handwerklicher Leistungskraft zu Hunderten.

Woran liegt das? Das liegt daran, dass die
Subjektivität des Urteils in künstlerischen Dingen —

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