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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 9.1898

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Hagen, L.: Die Nadelkünste und das Kunstgewerbe
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https://doi.org/10.11588/diglit.4886#0152
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Kopfleiste, gezeichnet von Maler M. Pörschmann, Leipzig

DIE NADELKÜNSTE UND DAS KUNSTGEWERBE

VON L. HAGEN

IM modernen Leben wird durchweg nur eine sehr
lockere Verbindung der Nadelkünste mit dem-
Kunstgewerbe anerkannt. Die Stickerei ist gegen-
wärtig sehr weit davon entfernt, ihre berufsmässige Rolle
als Führerin der gesamten Textilkunst zu erfüllen. Ohne
Zweifel haben die Leistungen der Plauenschen und
aller benachbarten • erzgebirgischen Industrien einen
starken Aufschwung genommen, und namentlich die
Distrikte von Aue, Annaberg, Eibenstock u. s. w. bieten in
Passementerie und in Maschinenspitzen vieles geradezu
Tadellose, und manches Mustergültige wird auch ohne
Anlehnung an überlieferte alte Spitzenmuster geschaffen.
Die Industriellen aber klagen, dass bei den deutschen
Frauen nicht annähernd so viel Verständnis für den
Wert dieser Muster vorhanden ist, wie im Auslande.
Mehr noch überrascht die auffallende Unsicher-
heit des Geschmacks auf Seiten der Käuferinnen in
Bezug auf Tapisserie-Arbeiten. Die Versicherung,
dass eine neue Technik „modern«, eine ältere, viel-
leicht viel gründlichere „unmodern" ist, genügt, um
jede Dame von einem Ankauf zurückzuschrecken,
der nicht in die schablonenmässige Routine des
Verkaufsgeschäftes hineinpasst. Die jüngere Gene-
ration höherer Töchter hat allerdings häufig von Stil
reden hören, hat allerlei darüber in Zeitungsfeuilletons
gelesen und fühlt sich nun verpflichtet, auch in Bezug
auf Stickereien stilvoll zu sein. Der Kaufmann hat
das natürlich rechtzeitig gewittert und trägt diesem
Stilbedürfnis auf seine Art Rechnung. Er lässt die
Wolle stilvoll, d. h. in möglichst unreinen Tönen
färben und vergisst dabei, dass die alten Stickereien,
die er nachzuahmen vorgiebt, nicht verblichen waren,
als man sie anfertigte. Weil nun die künstlich alten
Farben binnen kurzem unerträglich hässlich werden,
weil besonders alles in Anilin Gefärbte nicht nur ver-
bleicht, sondern sich dermassen verändert, dass die

letzte Spur von Farbenharmonie erlischt, so stellt sich
sehr schnell ein Überdruss auch an den Sachen ein,
die etwa noch nach einem gut gezeichneten alten Muster
hergestellt wurden. Ausserdem sind die guten alten
Muster zum Teil in unbarmherziger Weise misshandelt
worden, indem man sie willkürlich auf grobes Material
übertrug u. a. m. Auf diese Art ist z. B. die gesunde
Anregung, welche s. Z. durch Holbeintechnik und
Leinenstickerei gegeben wurde, fast spurlos an dem
Fortschritt der weiblichen Handarbeit vorüberge-
gangen. Auf keinem Gebiete der dekorativen Kunst
hat das, was die letzten Jahrzehnte an förderndem
Einfluss auf den Schmuck des Heims boten, so wenig
gefruchtet, wie auf dem Gebiete der Nadelkünste.

Man könnte nun diese Angelegenheit von kunst-
gewerblicher Seite mit einigen wohlfeilen Phrasen über
verbildete höhere Töchter und die Minderwertigkeit
des weiblichen Gehirns abthun. Das ist ja auch that-
sächlich schon geschehen. Doch darf es nicht so
bleiben, weil das Lebensinteresse des deutschen Kunst-
gewerbes von einer gewissenhaften Behandlung dieser
Frage berührt wird. In den Fachblättern der Textil-
industrie wird seit zwei Jahren unter Berufung auf
Äusserungen von Direktor Hoffmann in Plauen wieder
und wieder betont, dass das materielle Gedeihen der
deutschen Textilindustrie in Zukunft nahezu aus-
schliesslich von dem künstlerischen Werte der Muster-
zeichnung abhängt. Aus dieser Thatsache folgt fin-
den Anteil der deutschen Frauen in ihrer Stellung
zum Kunstgewerbe zweierlei. Einmal werden sie den
Umsatz der deutschen Ware in dem Grade fördern,
wie ihr Verständnis für die Schönheiten der deutschen
Musterzeichnung geweckt ist. In zweiter Linie liegen
in den Kreisen der gebildeten deutschen Frauen viele
tüchtige Kräfte im volkswirtschaftlichen Sinne brach,
die sehr wohl im Dienste einer tüchtigen Muster-
 
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