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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 9.1898

DOI Artikel:
Volbehr, Theodor: Die Reflexe des Zeitcharakters in den Möbelformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4886#0206
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DIE REFLEXE DES ZEITCHARAKTERS IN DEN MÖBELFORMEN

Entwurf zu einer Tapetenborte von Max Puschmann, Dresden.

aller historischen Forschung zum Trotz — eine geradezu
verhängnisvolle Rolle spielt. Ein Urteil, das lediglich
in dem subjektiven, momentanen Behagen des Urteilen-
den begründet ist, unterliegt natürlich allen erdenk-
lichen Einflüssen. Heute mundet dieser, morgen jener
Wein; und eines schönen Tages erscheint das Bier
als das trefflichste aller Getränke. Es wäre schlimm,
wenn wir auf dem Gebiete der bildenden Kunst auf
solche Stimmungsurteile angewiesen wären. Dann
wäre es jedenfalls wünschenswert, dass diese Urteile
das Geheimnis des Urteilenden blieben, statt in den
Köpfen derer, die sie in gläubiger Hingabe vernehmen,
Verwirrung zu stiften.

Ja, giebt es denn überhaupt andere als subjektive
Urteile? Ein Naturforscher würde kaum die Frage
stellen. Er weiss, das jedes lebende Wesen abhängig
ist von dem Erdboden, auf dem es erwächst, von der
Luft und den Sonnenstrahlen, die es umspielen, und er
weiss, dass solche Bedingungen auf Farbe und Wachs-
tum direktesten Einfluss haben; und wenn er urteilt,
ob das Lebewesen gesund und darum schön heran-
wächst oder nicht, dann urteilt er nicht aus einem
subjektiven Empfinden heraus, sondern objektiv aus
der Kenntnis eben dieser Bedingungen lebendigen
Daseins. Wäre es nicht möglich, in ähnlicher Weise
über Gegenstände des Schönen objektiv zu urteilen?
Oder ist die Kunst etwa kein lebendes Wesen? Ist
sie unabhängig von Erdboden, Luft, Sonne und
Regen ?

Über die Beantwortung solcher Fragen dürfte
eigentlich in unserem Zeitalter, das sich mit Stolz ein
naturwissenschaftliches zu nennen pflegt, kein Zweifel
sein. Wer die Augen aufmacht, sieht aufs deutlichste,
dass alles Kulturleben ist wie eine Pflanze. Unschein-

bare Wurzeln ziehen Kraft aus dem jeweiligen Boden,
in dem sie lagen, und treiben die Kraft in den
Stengel der Pflanze hinein; und solche Pflanze wächst,
blüht, stirbt ab, lässt ihren Samen von den Winden
über das Land tragen, bis der wieder unter neuen
Bedingungen Wurzeln treibt. Mit anderen Worten:
aus dem Zeitcharakter und dem Ortscharakter erklärt
sich die besondere Eigenart künstlerischer Formen-
gebung. Daher dürfte es notwendig sein, diesen
Charakter kennen zu lernen, ehe man ästhetische Sen-
tenzen über die Leistungskraft einer Epoche abgiebt.

Blättern wir einmal in der Kulturgeschichte des
deutschen Volkes, um an einem Objekte, das der
deutschen Nation — überhaupt allen germanischen
Nationen, besonders wert gewesen ist und noch ist,
festzustellen, ob solche Behauptungen das Richtige
treffen, ob in der That jede künstlerische Bethätigung
sich aus ganz bestimmten nationalen Bedingungen
erklärt. Lässt sich das feststellen, dann wäre der
Beweis erbracht, dass jedes subjektive Urteil, das auf
diese Bedingungen keine Rücksicht nimmt, zu ver-
werfen ist.

Das Heim, die Ausstattung der eigenen Wohnung,
hat fraglos den Deutschen zu allen Zeiten sehr am
Herzen gelegen; und welch ein Wechsel zeigte sich
in den Formen der Tische, Sitze, Betten, Kastenmöbel
des letzten Jahrtausends! Was konnte die Deutschen
bewegen, immer wieder in anderer Weise ihrem
sich ewig gleichbleibenden Gefühl für häusliche Sesshaf-
tigkeit, für das Behagen im Hause Ausdruck zu ver-
leihen?

Stellen wir in Gedanken eine Reihenfolge von
Zimmern nebeneinander, die von romanischer Zeit
bis in die Gegenwart die Wohnungsgelasse des gut-
 
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