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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 9.1898

DOI Artikel:
Volbehr, Theodor: Die Reflexe des Zeitcharakters in den Möbelformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4886#0209
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DIE REFLEXE DES ZEITCHARAKTERS IN DEN MÖBELFORMEN

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Entwurf zu einer Tapetenborte von Reinhold Hoffmann, Dresden.

das Gefühl, als ständen wir in einer völlig anderen
Welt.

Tische, Sitze, Schränke, Betten, alles ist leichter
geworden und über und über mit neuem Zierat
bedeckt. Auf Schritt und Tritt wird man an die
Antike erinnert, an römische Architektur und römische
Skulptur. Selbst an den Sitzmöbeln erscheint reicher
plastischer Schmuck. Die Mythologie und die Ge-
schichte der Alten muss zu Dekorationszwecken her-
halten, daneben aber zeigt sich ein unendlicher Reich-
tum neuer Formen. Was irgend das Auge an Inter-
essantem aufzufinden wusste in der lebenden und
toten Natur, was irgend die Phantasie zu gestalten

wusste, das wurde für den Schmuck des Heims ver-
wandt; vom Kinderkörper bis zu den Instrumenten
der Musik, von Satyrmasken bis zum Fruchtgehänge,
von den geistreichsten Allegorien bis zu den natura-
listischsten Tierkörpern fand alles im Ornament des
Kunsthandwerkers willigste Aufnahme.

Man muss ein wenig ausholen, um diesen Wandel
der Formen verständlich zu machen.

Seit dem 14. Jahrhundert hatten sich in Italien
die Städte sehr entwickelt, das Bildungsbedürfnis der
reichen Bürger war gestiegen, und das Interesse für
die grosse Zeit Italiens, da die Welt im Banne Roms
lag, begann in den Herzen der Gebildeteren Wurzel
zu schlagen. Im 15. Jahrhundert wurde dies stolze
Pietätsgefühl den Alten gegenüber allgemeiner. Die
Bewohner Roms begannen wieder sich „Römer" zu
nennen und Hessen so viel wie möglich die Pracht der
Vergangenheit wieder auferstehen. Bei den Karne-
valsaufzügen bildete man die Triumphzüge römischer
Imperatoren nach. Man begann Zeichnungen von
den erhaltenen Bauwerken des Altertums aufzunehmen,
Ausgrabungen zu veranstalten. Italien war so „antikisch«
wie nur irgend denkbar, und Kunst und Kunsthand-
werk in Italien mühten sich, zu nutzen von dem
Reichtum der antiken Vorbilder, was irgend zu
nutzen war.

Da nun seit dem 13. Jahrhundert die Handels-
beziehungen zwischen Deutschland und Italien über-
aus enge waren, so begreift sich, dass dieser neue
Geist bald über die Alpen drang.

Aber fast gleichzeitig war die Druckerpresse er-
funden, war die neue Welt und der Seeweg nach
Ostindien entdeckt worden. Das war von immenser
Bedeutung. Im Gefolge der Druckerpresse zog die
Kritik. Weitere Kreise lernten es, zu prüfen und zu
sondern, in die eigene Gedankenwelt hineinzublicken.
Die grossen Entdeckungen sorgten dafür, dass der
Blick dadurch nicht kurzsichtig werde, sondern es
nun auch lernte, scharf in die Ferne zu sehen. Koper-
nikus ordnete gar das Gewirr am Himmel. Was
Wunder, wenn die Augen der Zeit klarer schauten
als jemals vorher, wenn die Phantasie der Deutschen
die Phantastik abschüttelte, wenn man all die unend-
liche Fülle des Neugesehenen, des mit Bewusstsein
Gesehenen für die künstlerische Gestaltung des Hauses
zu verwerten suchte.

Aber bald zeigte es sich, dass die neuen Handels-
wege nicht nur Segnungen den Deutschen gebracht
hatten. Seit man auf dem Wasserwege die Schätze
Indiens ohne sonderliche Mühen erreichen konnte,
war kein Grund mehr vorhanden, den mühseligeren
Weg über Venedig und die Alpen nach den nor-
dischen Absatzgebieten zu gehen. Venedig erhielt
den Todesstoss und Nürnberg verlor allgemach seinen
Wohlstand. Lissabon wurde bedeutend, Holland und
 
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