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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 9.1898

DOI Artikel:
Volbehr, Theodor: Die Reflexe des Zeitcharakters in den Möbelformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4886#0210
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ig8

DIE REFLEXE DES ZEITCHARAKTERS IN DEN MÖBELFORMEN

England, dann auch Frankreich
traten — als Länder, die gün-
stig am Meere gelegen waren —
in die Reihe der Handelsstaaten,
Deutschland wurde langsam in
den Hintergrund geschoben.
Handel und Wandel gingen
zurück, die Hansa starb, und als
der 30jährige Krieg kam, da
schlugen die Axtstreiche an einen
Baum, der nicht mehr gesundwar.
Und weil die Deutschen
doch nicht zurückstehen wollten
hinter den anderen Nationen,
äfften sie fleissig nach, was vom
Ausland kam. Damals wurde
der böse Vers gedichtet:

„Fremde Kleider, falsche Haare,
Falsche Treu, verfälschter Wein,
Glatte Worte, falcher Schein
Sind anjetzt die beste Ware."

Und weil man sich schwach
fühlte, suchte man doppelt den
Eindruck der Stärke hervorzu-
rufen. Die Freude am Pathos,
am Übertreiben war nirgends
stärker als in Deutschland. Das
natürliche Haar wurde unter
die Allongeperücke gekämmt,
und der Bürgersmann drapierte
sich als Fürst, wenn er sich
für seinen „Salon" malen liess.
Dieser Zeitcharakter spricht
aus jedem Stück des Mobiliars
im späten 17. Jahrhundert. Der
Sitz, der Sessel ist vom verzierten
Leder so vollständig bedeckt,
dass man von dem tragenden
Holzgestell kaum noch etwas
bemerkt, die Schränke haben
riesenhafte Dimensionen ange-
nommen oder sie imitieren Pa-
lastfassaden mit gedrehten Säulen
und schweren gekröpften Glie-
dern. Mehr und mehr kommt
das seltsame Bedürfnis auf, den
eigentlichen
Stoff Charak-
ter des Mo-
biliars zu

verdecken,
den Holz-
kern durch

Schildkrot-
und Mes-

singornamente, oder durch aller-
lei eingelegtes Blumen- und
Bilderwerk völlig vergessen zu
machen. Aber plötzlich wurden
die massiven Schränke ins Vor-
zimmer verbannt, und kleine
Schubladen-Kommoden von
leichten, geschwungenen Formen
traten an ihre Stelle, an die Stelle
der grossen, thronartigen Sessel
traten zierliche Stühle, die sich
weich den Körperformen an-
schmiegten, und bequeme
Sophas, die für ein Plauder-
stündchen im tete a tete wie
geschaffen waren. Statt des
Leders deckten Gobelins oder
Stickereien die Sitze, statt des
Metalls und der bunten Hölzer
verkleideten farbige Lacke und
schäferliche Malereien den Holz-
kern der Möbel.

Alles ist zierlich-liebens-
würdig geworden. Das Pathos
ist abhanden gekommen und
an die Stelle ist die Causerie
getreten. Das 18. Jahrhundert
ist das Jahrhundert des Plau-
derns. Die Salons, diese Schau-
stellungen von Geist und Witz
der oberen Zehntausend, und
die Kaffeehäuser charakterisieren
das Zeitalter. Die Bildung ver-
breitert sich, alles Derbe, Laute
wird ausgemerzt. Der kräftige
Humpen wird zum zierlichen
Glase, der runde Löffel zum
spitzigen. Man möchte sich am
liebsten ganz von dieser rauhen
Welt entfernen, in ein Arkadien
flüchten, wo man leben könnte,
wie es das goldene Zeitalter
gethan, zur Insel der Cythere
fahren, um nur der Liebe und
dem süssen Träumen zu leben.
Es geht wie ein Ahnen durch
dieGemüter,
dass bald
rücksichts-
lose Stürme

kommen
werden, aber
man richtet

sich nicht
darauf ein,

Büstenständer (Regence), ausgeführt von Julius Zwiener, Berlin.
 
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