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WÜRTTEMBERGER KUNSTGEWERBEVEREIN
Bernhard Pankok, Stuttgart, Hölzerne Dosen, gedrechselt und gefräst In den Kul. Lelir- und Versucliswerkstütten In Stuttgart
Erzählungslust. Betrachten wir nur einmal etwa eine
mittelalterliche Darstellung von Maria Verkündigung,
sei es in einer Bilderhandschrift, sei es auf einem
Tafelgemälde. Der Vorgang ist vollständig klar und
bedurfte auch dem ungebildetsten christlichen Bauer
gegenüber niemals irgend einer Erläuterung; er konnte
einfach nie mißverstanden werden. Und dennoch
umschwirren sowohl die Madonna als auch den Erz-
engel sehr lange Spruchbänder, stets mit den Bibel-
worten »Ave Maria, gratia plena, dominus tecum ...«
usw. — Wozu? Einen erklärenden Wert haben solche
Inschriftenrollen, die auch bei den meisten anderen
biblischen oder historischen Szenen in der Regel nicht
fehlen, auf keinen Fall, denn einerseits waren sie ge-
wöhnlich lateinisch, daher für das Volk in einer un-
verständlichen Sprache, und anderseits hätte das Volk
selbst mit deutschen Inschriften nicht viel anfangen
können, da es fast ausnahmslos überhaupt — nicht
sich
lesen konnte,
leere Worte.
□ Wenn wir
und zugleich
uns ähnliche
Glasen finden
»Bibe felix«,
Bona vita«.
Es waren also nur Worte, nichts als
in der Zeit noch weiter zurückgreifen
ins Kunstgewerbe blicken, begegnen
Verhältnisse. Auf gar vielen antiken
wir liebenswürdige Heilsprüche, etwa
oder -Hilare semper gaudeas«, oder
Können wir annehmen, daß alle jene,
die solche Trinkgefäße beim Symposion herumreichen
ließen, sowie ihre Gäste des Lesens kundig waren?
Sicherlich nicht. Einzelne, oft wiederkehrende, kurze
Worte, wie »Salve« als Türschwellenmosaik, konnten
zwar bald einprägen; wenn aber ein Hauseigen-
tümer etwas anderes an die gleiche Stelle setzen
wollte, z. B. eine Warnung vor dem Hunde, dann
war er doch lieber vorsichtiger, und setzte zu den
Worten »cave canem« noch das Bild eines ungemüt-
lichen Köters hinzu. Jedenfalls war das Bild des
Hundes wichtiger und erfolgreicher als die Beischrift
o Wir wollen nicht noch weiter zurückgehen, etwa
in jene Zeiten, die überhaupt noch keine Zeichen-
sprache hatten, sondern vorerst nur eine Bildersprache
Aber manchmal könnte man sich fast in jene Fernen
zurücksehnen, wenn man nämlich sehen muß, welchen
Mißbrauch Kunst und Kunsthandwerk mit den Worten
treiben. Manche Gemälde und Zeichnungen eines
Hogarth fallen mit ihren zahllosen erklärenden In-
Bei-, Über- und Unterschriften überhaupt aus dem
Rahmen der bildenden Kunst heraus und sind mehr
als Romane oder »Moritaten« zu betrachten. Aber die
Sprache ist nicht nur nicht dazu da, um der bildenden
Kunst Gebiete, die ihr nicht gehören, zu erschließen-
sie soll uns auch die Freude an der freien und an-
gewandten Kunst nicht auf Schritt und Tritt durch
banale, salbungsvolle, schulmeisterliche Sentenzen ver-
gällen.
□ Kaum sind wir des Morgens — wenn auch manch-
mal etwas spät — dem Bette entstiegen, begrüßt uns
schon von der Wachsleinwand hinter dem Waschtisch
der Spruch »Morgenstunde hat Gold im Munde«.
Wir streifen die Pantoffel, die in bunter Stickerei die
Worte »Zum Andenken« tragen, ab und setzen uns zum
WÜRTTEMBERGER KUNSTGEWERBEVEREIN
Bernhard Pankok, Stuttgart, Hölzerne Dosen, gedrechselt und gefräst In den Kul. Lelir- und Versucliswerkstütten In Stuttgart
Erzählungslust. Betrachten wir nur einmal etwa eine
mittelalterliche Darstellung von Maria Verkündigung,
sei es in einer Bilderhandschrift, sei es auf einem
Tafelgemälde. Der Vorgang ist vollständig klar und
bedurfte auch dem ungebildetsten christlichen Bauer
gegenüber niemals irgend einer Erläuterung; er konnte
einfach nie mißverstanden werden. Und dennoch
umschwirren sowohl die Madonna als auch den Erz-
engel sehr lange Spruchbänder, stets mit den Bibel-
worten »Ave Maria, gratia plena, dominus tecum ...«
usw. — Wozu? Einen erklärenden Wert haben solche
Inschriftenrollen, die auch bei den meisten anderen
biblischen oder historischen Szenen in der Regel nicht
fehlen, auf keinen Fall, denn einerseits waren sie ge-
wöhnlich lateinisch, daher für das Volk in einer un-
verständlichen Sprache, und anderseits hätte das Volk
selbst mit deutschen Inschriften nicht viel anfangen
können, da es fast ausnahmslos überhaupt — nicht
sich
lesen konnte,
leere Worte.
□ Wenn wir
und zugleich
uns ähnliche
Glasen finden
»Bibe felix«,
Bona vita«.
Es waren also nur Worte, nichts als
in der Zeit noch weiter zurückgreifen
ins Kunstgewerbe blicken, begegnen
Verhältnisse. Auf gar vielen antiken
wir liebenswürdige Heilsprüche, etwa
oder -Hilare semper gaudeas«, oder
Können wir annehmen, daß alle jene,
die solche Trinkgefäße beim Symposion herumreichen
ließen, sowie ihre Gäste des Lesens kundig waren?
Sicherlich nicht. Einzelne, oft wiederkehrende, kurze
Worte, wie »Salve« als Türschwellenmosaik, konnten
zwar bald einprägen; wenn aber ein Hauseigen-
tümer etwas anderes an die gleiche Stelle setzen
wollte, z. B. eine Warnung vor dem Hunde, dann
war er doch lieber vorsichtiger, und setzte zu den
Worten »cave canem« noch das Bild eines ungemüt-
lichen Köters hinzu. Jedenfalls war das Bild des
Hundes wichtiger und erfolgreicher als die Beischrift
o Wir wollen nicht noch weiter zurückgehen, etwa
in jene Zeiten, die überhaupt noch keine Zeichen-
sprache hatten, sondern vorerst nur eine Bildersprache
Aber manchmal könnte man sich fast in jene Fernen
zurücksehnen, wenn man nämlich sehen muß, welchen
Mißbrauch Kunst und Kunsthandwerk mit den Worten
treiben. Manche Gemälde und Zeichnungen eines
Hogarth fallen mit ihren zahllosen erklärenden In-
Bei-, Über- und Unterschriften überhaupt aus dem
Rahmen der bildenden Kunst heraus und sind mehr
als Romane oder »Moritaten« zu betrachten. Aber die
Sprache ist nicht nur nicht dazu da, um der bildenden
Kunst Gebiete, die ihr nicht gehören, zu erschließen-
sie soll uns auch die Freude an der freien und an-
gewandten Kunst nicht auf Schritt und Tritt durch
banale, salbungsvolle, schulmeisterliche Sentenzen ver-
gällen.
□ Kaum sind wir des Morgens — wenn auch manch-
mal etwas spät — dem Bette entstiegen, begrüßt uns
schon von der Wachsleinwand hinter dem Waschtisch
der Spruch »Morgenstunde hat Gold im Munde«.
Wir streifen die Pantoffel, die in bunter Stickerei die
Worte »Zum Andenken« tragen, ab und setzen uns zum