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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 8 (2. Januarheft 1909)
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Gregori, Ferdinand: Die Schauspielerei als Beruf
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0093
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geschieht die Kündigung am allerletzten Tage, so daß die Erwerbung
eines anderen Engagements kaum noch im Bereich der Möglichkeit
liegt; oft wird sie nur zu dem Zwecke vorgenommen, das Mitglied
von sOO Mark auf 50 Mark für den Monat herabzudrücken. Ein
schauspielerisches „Fach" wird nicht bezeichnet, das eingereichte Ver-
zeichnis der gelernten Rollen ist belanglos, da das Repertoire des
Theaters meist aus Possen, Schwänken, Operetten und leichten Lust-
spielen besteht, für die die Schauspielerschule wenig tun kann. Die
jungen Leute müssen daher fleißig Statisten- und Choristendienste
leisten, im Ballett mittanzen, und dürfen dann und wann für er-
krankte Kollegen einspringen. Zum Memorieren derartiger Rollen,
die leichtlich hundert Quartseiten geschriebenen Text umfassen, bleibt
ihnen eine lange Nacht, manchmal nicht einmal diese. Die un-
umgängliche Probe für solche Husarenstückchen findet kurz vor der
Vorstellung statt. Wehe dem armen Teufel, der sich zu weigern
versucht oder der dann den Fluß der Aufführung hemmt! Er ist
schon wegen seiner Iugend verpflichtet, jedes Wort und jede Stel-
lung besser zu beherrschen, als die älteren Kollegen, die wochenlang
daran gearbeitet haben. In der Regel hat dies gesundheitsmordende
Schnellernen nicht den geringsten praktischen Erfolg. Die Kritik be-
sucht solche Abende nicht, weil sie nur zu Premieren geht; der
Direktor stellt fest, daß da und dort doch noch der Anfänger durch-
geschaut habe, dem mau große Aufgaben nicht anvertrauen dürfe;
und der erkrankte Kollege erholt sich ja auch wieder und nimmt
alte und neue gute Rollen in Alleinbesitz. So vergeht die erste
Spielzeit unter Entbehrungen; selten wird die zweite freundlicher,
denn die Agenten streichen solch ein „unbrauchbares" Mitglied, das
sich nicht „durchgesetzt" hat, aus ihrer Liste; sie haben ja Auswahl
in tzülle und Fülle.

Die Damen müssen laut Vcrtrag alle Kostüme selbst beschaffen,
die Herren wenigstens die moderne Garderobe, die Perücken, Fuß-
bekleidungen, Trikots und den Schmuck. Wenn man bedenkt, daß
die Stücke fast durchweg kaum eine Woche vor der Aufführung be°
setzt und ausgeteilt werden, so kann man die Bedrängnis eines
jungen Mädchens ermessen. Mir hat's das Herz oft abgedrückt,
zu sehen, wie die anständigen Kolleginnen zwischen Probe und Vor-
stellung mit fieberhafter Hand ihre Toiletten für den Abend her-
richteten. In der nichtigsten Rolle — und gerade darin — sollen
sie äußerlich glänzen. Eine Liebhaberin, die allabendlich nicht vier
oder fünf Nmzüge bewerkstelligen kann, verscherzt das Interesse der
Zuschauer und also auch die Gunst des Direktors. Da werden nun
Sammetstreifen geschnitten und aufgenäht, um die Robe von gestern
zu einer von heute zu machen; mit Schleifen und wchärpen moderni-
sieren sie ein altes Straßenkleid; der Hut wird bald mit, bald ohne
Feder getragen, das Paar Schuhe von Schwarz auf Gold lackiert,
der Bluseneinsatz herausgetrennt oder wieder eingefügt, aus der
Ophelia wird durch Raffen des Äberkleides eine Prinzessin Natalie
gezaubert. Diese Armseligkeit und diese Tränen! Des Morgens
bereitet man sich eine Tasse dünnen Kaffees (wenn es die Wirtin
erlaubt!) und taucht eine trockene Semmel ein; des Mittags darf

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