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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 8 (2. Januarheft 1909)
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Gregori, Ferdinand: Die Schauspielerei als Beruf
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0092
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Tritt man in solch eine Schulklasse unbefangen ein, so fällt
mancherlei anf. Da sitzen etwa 55 Mädchen und sO Iungen bei-
einander. Man verpflanzt sie im Geiste an eine Bühne. Dort
ist das Verhältnis der Geschlechter aber umgekehrt. Sehen wir die
Stücke an: in den „RLubern" lebt Amalia einsam zwischen s8 Män-
nern; „tzamlet" verlangt 2 Damen und 2ö Herren; mit wie wenig
Frauen kommen die endlosen Theaterzettel des „Götz", „Wallen-
stein", „Tell" aus! Und tatsächlich ziehen die Bühnenleiter bei der
Zusammenstellung ihres Personals diesen Punkt in Erwägung. Der
Grund dafür, daß die Mädchen in der Aberzahl sind, ist leicht
einzusehen: ihnen stehen weit weniger Berufe offen als den Knaben.
Eitelkeit und die Hoffnung auf eine gute eheliche Versorgung wirken
nebenher; das Theater hat sich ja oftmals als vortrefflicher Heirats-
markt bewährt. — Doch weiter! Die jungen Menschen machen zum
großcn Teil einen mitleidswürdigen Eindruck: sie sind schlecht ge-
nährt, und es scheint, als könne von ihnen nicht gerade die Fülle
des Lebens anf Täusende überstrahlen. Auf den ersten Blick möchte
man zwei Dritteln den Rat geben, ihren Plan fallen zu lassen; hat
man aber einer Lese- und Redeübung beigewohnt, so ergeht der
gute Rat im Geiste schon an neun Zehntel. Vom Honorar jedoch,
das ein Zehntel dcr Schüler bezahlt, könnte der Direktor nicht leben,
um so weniger, als er diesen wirklich Begabten meist Freiplätze ein-
geräumt hat: sie sollen der Ruhm der Akademie werden und in
Zukunft neue tüchtigere Zahler anlocken. Es ist kein Sprech- und
Lesefehler denkbar, der nicht in zweien solcher Lehrstunden auf-
träte. Nur ein paar Leuchten bringen es überhaupt fertig, allein
mit dem Auge die Zeilen zu verfolgen, die übrigen helfen kindlich
mit dem Zeigefinger nach.

Es erübrigt sich, das Bild in die Länge und Breite zu dehnen-
auch will ich hier nicht die Leistnngen derartiger Institute kritisieren'
Am Schlusse des zweiten Schuljahres stellen sich die Eleven, wiederum
unter beträchtlichen Geldopfern, der sogenannten Sffentlichkeit vor;
sie treten in Dramenfragmenten auf und lassen sich von ihren An-
gehörigen beklatschen. Einige Theateragenten werden durch Frei-
karten ausgezeichnet, und einer von ihnen kommt vielleicht auch in
Gesellschaft des Vorstadt-Direktors hin, der, wenn's gut geht, wirklich
mit einem Schüler oder einer hübschen ^chülerin einen Vertrag schließt.
Dieser Vertrag bedeutet nun, so lange er noch nicht in Kraft ist, die
Seligkeit für den jungen Schauspieler; wer genauer hineinsieht, begreift
das nicht. Seit Iahren wird von der Vertretung der deutschen Bühnen-
mitglieder an der Vermenschlichung der Paragraphen gearbeitet, und
einige Theater, besonders die großen, sind dadurch und durch ihre
vorgesetzten Behörden oder durch Kartelle gezwungen worden, die
und jene Korsaren-Bedingung zu mildern oder zu streichen. Dem
Anfänger aber öffnen sich derlei Menschlichkeitstore nur in ver-
einzelten Fällen, und er muß oft schlimmere Dinge unterschreiben,
als ich hier kurz skizziere. Es handelt sich meist um ein Engagement
von sechsmonatiger Dauer, doch dars der Direktor aus allerhand
Motiven während der ersten drei oder vier Wochen dem Mitgliede
kündigen. Davon wird ausgiebiger Gebrauch gemacht. Sehr oft

2: Ianuarheft ch09 ^ F
 
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