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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 22,2.1909

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Heft 9 (1. Februarheft 1909)
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Avenarius, Ferdinand: Wildenbruch
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https://doi.org/10.11588/diglit.8815#0158
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danken formt sie um zu Helfern für dieses Ziel; und so steigert sie
die Gesamtkraft zu einseitiger aber auf dieses Eine in Rücksichtslosig-
keit gegen das andre voll gesammelter Energie. Darum erscheint der
Mensch kraftvoll, darum „groß" in der Leidenschaft, mächtiger, als
irgend sonst. Anders die bloße „Leidenschaftlichkeit", der Affekt, bei
dem schon Kant betont: wo viel Affekt ist, ist wenig Leidenschaft. Die
Leidenschast ordnet alles unter das Ziel, der Affekt bedeutet Auf-
geregtwerden durch das, was gerade am Wege ist. Hebbel war Leiden-
schaftsdramatiker, er, der doch kurzsichtigen Blicken so kalt erscheinen
konnte, daß man bei ihm von der Phantasie sprach, „die unterm Eise
brütet". Shakespere war's, der mit sachlichen Weltbildern auch in
Ruhe, auch mit Komik unabwendbar sicher an dem Einen spann,
dem in der Tiefe seine oder seiner Gestalten Leidenschaft nachging,
jeder große Dramatiker war's. Wildenbruch aber hatte wohl immer
hohe Gestimmtheit, und in allgemein menschlichem Sinne auch Leiden-
schaft, denn seine Vaterlandsliebe durchdrang ihm jede Faser. Aber
dem Dichter in ihm stellten sich, darf ich so sagen, die Kulissen vor den
Hintergrund, stellte sich die Situation vor das Ziel in der Ferne. Wenn
seine Bilder zu spielen begannen, spielten sie leicht mit ihm. Die
Bilder, die Erscheinungen der Menschen und Dinge, nicht ihr
Wesen, ihr Wesen wandelte sich gerade unter der Abermacht der
Bilder. Wie oft haben wir den Lindruck, daß nicht er den Stoff,
daß der Stoff ihn hat. Der Stoff oder die Stimmung oder die Szene.
Oft könnte man sagen: daß das Theater ihn hat. Denn darin lag
ja sein Bühnentalent, das als solches ganz außeroröentlich groß war:
er sah in der Tat alles als Situation, alles als Szene. Darin
war er vielen überlegen, deren eigentliche Dichterkraft der seinen
überlegen war. Rnd im Publikum „packte" er dadurch tausende,
die vielleicht vom echten Dramatiker nicht gepackt worden wären.
Man mußte selber den tiefen Drang nach Wahrheit, nach Möglichkeit,
nach der Einheitlichkeit des Seienden haben, mußte auch in dieser
Welt erfahren sein, um nicht mitzugehn. Wildenbrnch selber
fehlte das, wenn er im Rausch des Poeten war, er konnte dann bis
zu Unmöglichkeiten der Handlung, bis zur Umkehrung der Charaktere,
bis zur tönenden Phrase der Rede kommen und bis zu einer Außer-
lichkeit der Aufregung, die dem anspruchsvollen Geist nichts mehr
sagte, als: daß dort ein Lärmen war.

And dieses Versagen dürfen wir nicht einmal allein auf ein Zu-
viel an Temperament zurückführen, sondern auch ai:f ein Zuwenig
an andern Eigenschaften. Wildenbruchs Selbstkritik war wirklich er-
staunlich schwach im Vergleich zu seinen Affekten, er hätte sonst wenig-
stens nach dem Schaffensrausch die Mängel erkennen müssen. Er
war kein starker Psycholog, war wohl auch keine weit überragende
Intelligenz. Man würde aus seinen Werken überhaupt kaum den
Eindrvck gewinnen, daß er mit den Problemen des Daseins in per-
sönlichem Kampfe rang. Er kam mit wundersam wenig Skepsis, mit
erstaunlich wenig Fragen an das Schicksal aus. Er war im Denken
fast kindlicher Dogmatiker; er trug seine Ideale als unverrückbare Tat-
sachen im Herzen; er fühlte sich in einem sichern Wissen, was recht
und gut sei, und kaum schien ihm selbst die Frage schwierig, wie man's

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