als endgültige Form nur noch theo--
retisch aufrechterhalten.
Verdi hat sich, als ein Kind seiner
Zeit, der veränderten Richtung des
Geschmackes angepaßt nnd sich die
ihm ursprünglich neuen und frem-
den Elemente einer im modernen
Sinne dramatischen Technik assimi-
liert. Er hat es in vielen und we--
sentlichen Punkten getan, aber ohne
seine Individualität je im gering--
sten aufzugeben. Das Grundprinzip
seines Schaffens ist dnrch alle
Wandlungen hindurch das seiner
Vorgänger geblieben: der Kern der
musikalischen Erfindung ist ihm stets
die Hauptsache, der Ansdruck ist von
Form- und Schönheitssinn geleitet
und der Zusammenhang mit der
Vergangenheit nirgends unterbro-
chen. Hier haben wir also das große
Genie vor Augen, das selbst in einer
von revolutionären Bewegungen er-
füllten Zeit aus dem Aberkomme-
nen heraus das Neue gestaltet und
so schaffend ruhig und nnbeirrt seine
Straße zieht.
Verdi ist neben Wagner und
Brahms die bewegende Kraft des
ausgehenden Iahrhunderts. Die
Einwirkungen, die von ihm ausgin-
gen und mehr noch ausgehen, sind
um so leichter erkennbar, als der
Dramatiker von der Bühne herab
eindringlicher und häufiger als je-
der andre Künstler zur Menge
spricht. Daß übrigens selbst im
Lager der am meisten links stehen-
den Parteien mit reaktionären Mit-
teln gearbeitet wird, ist in der mo-
dernen Kritik mehr als einmal zum
Ausdruck gebracht worden. Man
braucht nur an Max Rcgcr und seine
Kontrapunktik oder öfter an die
Versimpelnng des Ausdrucks bei
Koloristen L Is Debussy zu denken.
Schließlich ist auch nicht zu über-
sehen, was die so erfolgreich in die
Wege geleitcten Nenaissancebestre-
bungen, die bereits so viele ältere
b Ianuarheft WO
Musik der Praxis znrückgewonnen
haben, der zeitgenössischen Produk--
tion für Anregungen bieten.
Wer all diese Erscheinungen vor-
urteilslos prüft, muß davon abkom-
men, unsre schaffenden Musiker so
schlechthin in Fortschrittler und Re-
aktionäre einzuteilen. Wie zu allen
Zeiten kann heute, und heute ganz
besonders in der vermcintlichen Re°
aktion der größte Fortschritt liegen.
Leichtcr noch als in der Politik wer-
den ja in der Kunst die Begriffe
„reaktionär" und „konservativ" ver-
wechselt, wird der eine fälschlich mit
dem andern für identisch gehalten.
Im allgemeinen kann man sagen,
daß sich bei den großen, wahrhaft
bahnbrechenden Männern immer
ebensogut konservative wie revolu-
tionäre Instinkte nachweisen lassen.
Ia es scheint fast, als ob die richtige
Mischung beider recht eigentlich ihre
Größe ausmache, sie Zu ihrer Füh-
rerrolle befähige. Soviel steht je-
denfalls fest, daß auch hier erst die
Zukunft das entscheidendc Urteil
fällt. Auch wir können nicht wis-
sen, woher uns das Heil kommt,
und ob nicht manches, was jetzt rück-
schrittlicher Tendenzen verdächtig er-
scheint, die Keime einer zukünftigen
Lntwicklung in sich trägt oder sie
doch wenigstens vorbereitet.
Leopold Schmidt
Vom Ohrenfrieden
eit Schopenhauer seine berühmte
Philippika gegen Lärm und Ge-
räusch losgelassen hat, ist der lite-
rarische Kampf für dcn Ohrenfrie-
den dcs Lebens nie ganz zum Still-
stand gekommen. Wir haben auch
im Kunstwart wiedcrholt das Wort
zur Sache genommcn. Ietzt hat
Theodor Lessing, der den Anti-
lärmbund nach ansländischcm Vor-
bild gegründet hat, eine eigene
Kampfschrift vom Stapel gclassen:
retisch aufrechterhalten.
Verdi hat sich, als ein Kind seiner
Zeit, der veränderten Richtung des
Geschmackes angepaßt nnd sich die
ihm ursprünglich neuen und frem-
den Elemente einer im modernen
Sinne dramatischen Technik assimi-
liert. Er hat es in vielen und we--
sentlichen Punkten getan, aber ohne
seine Individualität je im gering--
sten aufzugeben. Das Grundprinzip
seines Schaffens ist dnrch alle
Wandlungen hindurch das seiner
Vorgänger geblieben: der Kern der
musikalischen Erfindung ist ihm stets
die Hauptsache, der Ansdruck ist von
Form- und Schönheitssinn geleitet
und der Zusammenhang mit der
Vergangenheit nirgends unterbro-
chen. Hier haben wir also das große
Genie vor Augen, das selbst in einer
von revolutionären Bewegungen er-
füllten Zeit aus dem Aberkomme-
nen heraus das Neue gestaltet und
so schaffend ruhig und nnbeirrt seine
Straße zieht.
Verdi ist neben Wagner und
Brahms die bewegende Kraft des
ausgehenden Iahrhunderts. Die
Einwirkungen, die von ihm ausgin-
gen und mehr noch ausgehen, sind
um so leichter erkennbar, als der
Dramatiker von der Bühne herab
eindringlicher und häufiger als je-
der andre Künstler zur Menge
spricht. Daß übrigens selbst im
Lager der am meisten links stehen-
den Parteien mit reaktionären Mit-
teln gearbeitet wird, ist in der mo-
dernen Kritik mehr als einmal zum
Ausdruck gebracht worden. Man
braucht nur an Max Rcgcr und seine
Kontrapunktik oder öfter an die
Versimpelnng des Ausdrucks bei
Koloristen L Is Debussy zu denken.
Schließlich ist auch nicht zu über-
sehen, was die so erfolgreich in die
Wege geleitcten Nenaissancebestre-
bungen, die bereits so viele ältere
b Ianuarheft WO
Musik der Praxis znrückgewonnen
haben, der zeitgenössischen Produk--
tion für Anregungen bieten.
Wer all diese Erscheinungen vor-
urteilslos prüft, muß davon abkom-
men, unsre schaffenden Musiker so
schlechthin in Fortschrittler und Re-
aktionäre einzuteilen. Wie zu allen
Zeiten kann heute, und heute ganz
besonders in der vermcintlichen Re°
aktion der größte Fortschritt liegen.
Leichtcr noch als in der Politik wer-
den ja in der Kunst die Begriffe
„reaktionär" und „konservativ" ver-
wechselt, wird der eine fälschlich mit
dem andern für identisch gehalten.
Im allgemeinen kann man sagen,
daß sich bei den großen, wahrhaft
bahnbrechenden Männern immer
ebensogut konservative wie revolu-
tionäre Instinkte nachweisen lassen.
Ia es scheint fast, als ob die richtige
Mischung beider recht eigentlich ihre
Größe ausmache, sie Zu ihrer Füh-
rerrolle befähige. Soviel steht je-
denfalls fest, daß auch hier erst die
Zukunft das entscheidendc Urteil
fällt. Auch wir können nicht wis-
sen, woher uns das Heil kommt,
und ob nicht manches, was jetzt rück-
schrittlicher Tendenzen verdächtig er-
scheint, die Keime einer zukünftigen
Lntwicklung in sich trägt oder sie
doch wenigstens vorbereitet.
Leopold Schmidt
Vom Ohrenfrieden
eit Schopenhauer seine berühmte
Philippika gegen Lärm und Ge-
räusch losgelassen hat, ist der lite-
rarische Kampf für dcn Ohrenfrie-
den dcs Lebens nie ganz zum Still-
stand gekommen. Wir haben auch
im Kunstwart wiedcrholt das Wort
zur Sache genommcn. Ietzt hat
Theodor Lessing, der den Anti-
lärmbund nach ansländischcm Vor-
bild gegründet hat, eine eigene
Kampfschrift vom Stapel gclassen: