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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 12 (2. Märzheft 1910)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0454
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im cinzelncn, damals und lange das Allerhöchstc erhoffte. Wir allc
sahcn auch Mängel bei ihm: wir kamen ziemlich bald dahintcr, daß
manches seincr sichern Arteile „mehr dogmatisch als zertitndinal" gedacht
war, daß ihm cine vorgefaßte Meinung leicht Axiom werden konnte, daß
seine Selbstkritik nicht seinem Selbstbewußtsein entsprach, daß seinc Phan-
tasie seinen Verstand oft sozusagcn unter den Arm nahm, um mit ihm
durchzugehn, daß überhaupt in diesem Hirn allerhand Hemniungen allzu
leicht versagtcn - aber wir hielten seine Bcgabung für so hoch hinaus-
ragend übers Gewöhnlichc, daß wir uns troh alledem nicht nur Be-
deutendes, sondcrn Großes von ihm versprachen. Das ist nicht nur uns,
das ist Kirchbachs ganzes Leben lang vielen so gcgangen. Insbcsondere
mancher minder erfahrcne Iüngcre ward von ihm schlechtweg geblcndct.
Dann aber erfreute er auch wieder die reifsten und feinsten Geister, weil
erst sie dic besonderen Vorzüge dieser leichtbeweglichen Vorstellungen in
ihrcr Seltenheit würdigcn konnten. Möglich, daß der odcr jcner mir
antwortcn wird: „Ia, hat denn Kirchbach nicht »Großes« erreicht?" Ich
kann's nicht finden, wenn ich das Gcschaffene an seiner Begabung messe.
Vielleicht in keinem einzigen sciner Bücher fehlen Stcllen, die fesseln,
ja hinreißen, aber wohl auch in keinem einzigen fehlen — sagen wir:
Kaumbegreiflichkeiten. Die verstreuten Einzelwerte wachsen nur selten
zusammen, dies verläuft, jcnes vcrspielert, ja vertändelt sich, zu wuch-
tigcm Ganzen ballt sich wenig, und wenn sich's ballt, so hält sich's nicht.
Der altmodische Sprachgebrauch hätte gesagt: er arbeitete genialisch, nicht
genial. Ich befürchte sehr, daß die von Callweh angekündigte acht--
bändigc Gesamtausgabe vielcn eine Enttäuschung bescheren wird. Aber
zwei, drei Bände des Bcsten aus seinen Schriften, von recht klarem
Auge ausgelesen, könnten eine Kirchbach-Anthologie von gcradezu köst-
lichcm und lange vorhaltendem Anreger-Reize geben.

Das eben bci Eallwch erschicnene Buch, das die Äberschrift dieser
Zeilen als Titel trägt, gibt eincn Vorgeschmack davon. Der Untertitel
sagt: „Briefwechsel und Essays aus dem Nachlaß herausgegeben von
Marie Luise Becker und Karl von Levetzow." „Die Darstellung seiner
mcnschlichen wie künstlerischen Individualität" hat Frau Becker, Kirch-
bachs Witwe, versucht. Es ist ihr nicht der mindeste Vorwurf daraus zu
machen, daß sie den Toten über Lcbensgröße sah und zusammentrug, was
ihn so zeigcn sollte — im Gegcnteil, man muß anerkennen, daß sie dabei
die Grenzen des Geschmacks gewahrt hat. Die Rezensionen zum Bei-
spiel aus der „Dresdner Nachrichten"-Zeit, die literarischen Außerungen
(zum Beispiel über Hauptmann) überhaupt, die ihn heut diskrediticren
würden, fehlen aber; die Auslese zeigt, wo er nach Ansicht der Heraus-
geber Meisterschüsse tat, jcdoch wie oft er (und manchmal mit bcträcht-
lichcm Geknall) vorbeischoß, das zeigt sie nicht. Den Hauptwert des Buches
gibt trotzdem durchaus, was von Kirchbach selbst stammt. Und ich sollte
meinen: besscr kann er einem gar nicht vorgestellt werden, der ihn noch
nicht kennt und der keinen Grund hat, ihn auch von den minder günstigen
Seiten kennen zu lernen, einem, der ihn liebhabcn will, denn hier gewinnt
er ihn licb. Auf die dunklern Stellen im Bild deutet in unsrer Auslese nur
sclten etwas, wie die Aberschätzung, mit der er die Leistungen von produ-
zicrenden und reproduzierenden Leuten bespricht, die ihm befreundet waren
— nicht etwa aus Unehrlichkeit, sondern weil seinc Phantasie sich über-

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