Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

DOI Heft:
Heft 12 (2. Märzheft 1910)
DOI Artikel:
Lose Blätter
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0455
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
leicht begeistcrte, wo persönlicher Verkehr mit im Spiele war und dann
ganz guten Glaubens Mittelmäßiges als Bedcutendes pries. Das „Pcr-
sönlichc" färbt übcrall sein Meinen und Fühlen. Vor allem aber doch im
bcsscrn Sinne. Man muß diese mit größtem Sicherheitsbcwußtscin daher-
kommenden Urtcile und Tatsachen-Auffassungcn nur nicht mit gar zu
vicl Ernst, nur mit ein wenig von dem Humore nehmen, dcn Kirchbach
beim Opponcntcn im mündlichcn Verkehr mit Lachen vertrug, und man
hat einen schr ungewöhnlichen Genuß am Miterleben seines Gedanken-
gesprudels. Daß sich Kirchbach jenseits seines „Abrahamstages" crst rccht
„vollendet" hätte, glaub ich nicht. Er war einer der frührcifsten Menschcn,
die ich kannte; er war in seinen Neigungen von allerhand Milieu-
cinflüssen, in seinen Urteilen von Gedanken dcs Hcgelschen Kreises, von
Vischer und (obgleich er nichts wcniger als Pcssimist war) von Hartmann,
in scinem Dichten von den großen deutschen nnd englischen Realistcn
eigentlich schon als junger Mensch so festgelegt, daß er Neues mehr auf
Adäquates hin und auf Belege seincr Meinungen durchsuchte, als daß er
Voraussehungslosigkeit auch nur erstrebtc. Äber einzelnes wcchselte er
scine Ansichten wohl gründlich, aber das hatte dann andrc, hatte mcist
die oben angedeutcten Arsachen. Seinc Beschäftigung mit den Wisscn-
schaften war ein Dilettieren, aber auch mit den Vorzügcn des Dilct-
tierens durch einen ungewöhnlich gescheiten, fachmännisch nicht dressierten
Gcist. Kirchbachs Werte liegen ja nic im Systcmatischen, und so bricht
nicht vicl ein, wenn da und dort einc Säule knackt. Wir hätten den
im besten Wortsinn immer muntercn Gcdankcn und dcn einseitigcn,
aber so gesunden wie feinen und immer auf Lebenswcrte schürfenden
künstlerischen Geschmack dieses Außcnseitcrs noch lange brauchen können!

Wer Kirchbach gckannt hat und nun dieses Buch liest, dcm wird es
scin, als fingc dcr blonde langhaarige Mann mit der runden Stirn und
dcn vornehmen Händcn, den seines Vruders leibl-trübnerisches vortrcffliches
Bild uns zeigt, wiedcr zu redcn an. Ia, reden konnt er auch! In ciner
Zeit höchster Geselligkeitskultur, nicht der Fünf-Uhr-Tees, nicht einmal
des Salons, sondern dcr Symposien wären vielleicht die besondern Werte
Kirchbachs am allerbesten zur Geltung gekommen, wo auch das Gegen-
wort aus gleich gutcm Kopfe nicht fehlte und dcr Genuß an geistiger
Bewegung selbst dic Hauptsachc war. A^

IZ

sMichelangcloj

. . . dieser Michelangclo macht zum Beispiel eineu Adonis, dcr
stirbt. Es ist ein Körper, wo mit physiologischer Wahrhcit ein indi-
viduell physiologisches Prinzip dcr Natur dnrchgeführt ist. Da sieht
man am Schenkel ein gewisscs Maß zwischen adonishafter Zartheit und
doch strähnigcr, entwickelter Muskulatur. Nun, cr organisiert bis in
dic Fingerspitze aus diesem selbcn Körpcr und keiner hat wie er ver-
standen, daß die Natur meinen Finger ganz genau auf meinc Nasen-
spitzc bcrechnet hat und daß, wenn die Nasenspitze ein wenig andcrs
stündc, womöglich meine Fingernägel um eine Nuance anders scin würden.
Also die physiologische, anatomische Identität der Gestalt, das ist
die Hauptsache, und auf diesem Wege gelangt man znr Schönheit.
Nicht von anßen idealisieren, sondern mit vollendeter Kenntnis
dcr Natur cin Individuum organisiercn — das macht schöne Kunst.

2. Märzheft (9(0 37(
 
Annotationen