der Zeit, denen ein ähnliches bitte--
res Los beschieden ward.
Sagen
on dem „Deutschen Sagen-
bnch" (C. H. Beck'sche Verlags--
buchhandlung in München), das
der Germanist an der Münchner
Universität, Professor vr. von der
Lehen, in Verbindung mit andern
herausgibt, besprach ich im vorigen
Iahre an dieser Stelle den ersten
Band, der die „Deutschen Götter--
sagen" enthält. Nun ist der vierte
Band mit den „Deutschen Volks--
sagen" von Friedrich Ranke er-
schienen und tritt sogleich so lebendig
ergänzend neben den ersten, daß
seiner schon heute, ehe das ganze
Werk vorliegt, Erwähnung getan
werden soll. Sahen wir dort aus
der unerschöpflichen mythenbilden-
den Kraft des Volksgeistes die ge-
waltigen Göttergestalten hervor-
gehen, die — vor unsern Augen in
Wandlung wie mächtiges, immer
neue Umrisse bildendes Gewölk —
ins Abermenschliche hinaufrückten,
so sehen wir hier diesen selben
Volksgeist im Alltäglichen träu-
mend schaffen, mit phantastischer
Sehergabe in die seltsamen, unserm
Wissen immer verschloßnen Grenz-
gebiete, in dencn das Menschenleben
seine Selbstverständlichkeit verliert
und dunkelndes Rätsel wird, hinein-
leuchten. Was ist die Seele? Was
für geheimnisvolle, uns am hellen,
nüchternen Tage unbekannte, fast
zauberhafte Kräfte kann sie, noch im
Leib der Lebendigen, cntwickeln?
Was wird mit ihr nach dem Tode?
Lebt sie, wirkt sie noch? Hängt sie
noch mit ihrcm ehemaligen Sein
im Raume zusammen? Und was
für geisterhafte, ihr verwandte, uns
unsichtbare Geschöpfe gibt es in
Wald und Feld, in Wasser und
Gebirge, im Leib mancher Tiere, die
alle ihr Dasein durch Wirken kund-
tun? Solche Fragen, die für den
ursprünglichen Menschen in jedem
Zufall, jeder nicht gleich erklärbaren
Gelegenheit auftauchen, haben den
Geist des Volkes immer beschäftigt.
And naturgemäß hat er, der Ge°
staltende und Denkungeübte, als
Antwort immer nur die Begeben-
heit, die ihm rätselhaft war, mit
Hinzumischung seines besonderen
Eindrucks, seines Erklärungsver-
suchs weiter erzählt. So ward das
berichtete Geschehnis, hatte es nur
einen Anflug von Abcrnatürlichem,
rasch zur Sage. Friedrich Nanke
gibt in seiner guten, ausgeglichenen
Einleitung einen klaren Umriß vom
Wesen der Sage, indem er sie
besonders von dem scheinbar nah
verwandten Märchen abgrenzt und
den tiefgehenden Anterschied zwi-
schen beiden, ihren ganzen Wesens-
gegensatz, zeigt. Der liegt darin,
daß man das Märchen immer als
eine erfundene, gedichtete schöne Ge-
schichte (die natürlich mit der Sage
oft aus derselben Quelle schöpfen
kann!) auffaßt, daß es dem dich-
terischen Erzähler immer Gelegen-
heit zum Erwcitern nnd fortsetzenden
Fabulieren gibt — und daß es, wie
alle Kunst, seine letzte und ticfste
Wahrheit nicht in sich, sondern in
der Seele des Aufnehmendcn uud
ihren lebendigen Wünschcn und Bc°
dürfnissen trägt. Im Märchen
muß Sinn und Zusammenhang,
bei allem Spiel der Phantasie Ur-
sache und Wirkung, muß poetische
Gerechtigkeit und Rücksichtnahme
auf die Gefühle und die Weltan-
schauungen der Hörer sein. Ganz
anders bei der Sage! Sie kann
all das von sich weisen, indem
sie den einen Anspruch erhebt:
was ich berichte, ist wahr! Mag es
unverständlich, düstcr, ganz seltsam
sein und euch, Hörcr, mit schmerz-
lichen Gcfühlen entlassen — ihr
müßt es hinnehmen: es ist wahr. —
392 Kunstwart XXIII, (2
res Los beschieden ward.
Sagen
on dem „Deutschen Sagen-
bnch" (C. H. Beck'sche Verlags--
buchhandlung in München), das
der Germanist an der Münchner
Universität, Professor vr. von der
Lehen, in Verbindung mit andern
herausgibt, besprach ich im vorigen
Iahre an dieser Stelle den ersten
Band, der die „Deutschen Götter--
sagen" enthält. Nun ist der vierte
Band mit den „Deutschen Volks--
sagen" von Friedrich Ranke er-
schienen und tritt sogleich so lebendig
ergänzend neben den ersten, daß
seiner schon heute, ehe das ganze
Werk vorliegt, Erwähnung getan
werden soll. Sahen wir dort aus
der unerschöpflichen mythenbilden-
den Kraft des Volksgeistes die ge-
waltigen Göttergestalten hervor-
gehen, die — vor unsern Augen in
Wandlung wie mächtiges, immer
neue Umrisse bildendes Gewölk —
ins Abermenschliche hinaufrückten,
so sehen wir hier diesen selben
Volksgeist im Alltäglichen träu-
mend schaffen, mit phantastischer
Sehergabe in die seltsamen, unserm
Wissen immer verschloßnen Grenz-
gebiete, in dencn das Menschenleben
seine Selbstverständlichkeit verliert
und dunkelndes Rätsel wird, hinein-
leuchten. Was ist die Seele? Was
für geheimnisvolle, uns am hellen,
nüchternen Tage unbekannte, fast
zauberhafte Kräfte kann sie, noch im
Leib der Lebendigen, cntwickeln?
Was wird mit ihr nach dem Tode?
Lebt sie, wirkt sie noch? Hängt sie
noch mit ihrcm ehemaligen Sein
im Raume zusammen? Und was
für geisterhafte, ihr verwandte, uns
unsichtbare Geschöpfe gibt es in
Wald und Feld, in Wasser und
Gebirge, im Leib mancher Tiere, die
alle ihr Dasein durch Wirken kund-
tun? Solche Fragen, die für den
ursprünglichen Menschen in jedem
Zufall, jeder nicht gleich erklärbaren
Gelegenheit auftauchen, haben den
Geist des Volkes immer beschäftigt.
And naturgemäß hat er, der Ge°
staltende und Denkungeübte, als
Antwort immer nur die Begeben-
heit, die ihm rätselhaft war, mit
Hinzumischung seines besonderen
Eindrucks, seines Erklärungsver-
suchs weiter erzählt. So ward das
berichtete Geschehnis, hatte es nur
einen Anflug von Abcrnatürlichem,
rasch zur Sage. Friedrich Nanke
gibt in seiner guten, ausgeglichenen
Einleitung einen klaren Umriß vom
Wesen der Sage, indem er sie
besonders von dem scheinbar nah
verwandten Märchen abgrenzt und
den tiefgehenden Anterschied zwi-
schen beiden, ihren ganzen Wesens-
gegensatz, zeigt. Der liegt darin,
daß man das Märchen immer als
eine erfundene, gedichtete schöne Ge-
schichte (die natürlich mit der Sage
oft aus derselben Quelle schöpfen
kann!) auffaßt, daß es dem dich-
terischen Erzähler immer Gelegen-
heit zum Erwcitern nnd fortsetzenden
Fabulieren gibt — und daß es, wie
alle Kunst, seine letzte und ticfste
Wahrheit nicht in sich, sondern in
der Seele des Aufnehmendcn uud
ihren lebendigen Wünschcn und Bc°
dürfnissen trägt. Im Märchen
muß Sinn und Zusammenhang,
bei allem Spiel der Phantasie Ur-
sache und Wirkung, muß poetische
Gerechtigkeit und Rücksichtnahme
auf die Gefühle und die Weltan-
schauungen der Hörer sein. Ganz
anders bei der Sage! Sie kann
all das von sich weisen, indem
sie den einen Anspruch erhebt:
was ich berichte, ist wahr! Mag es
unverständlich, düstcr, ganz seltsam
sein und euch, Hörcr, mit schmerz-
lichen Gcfühlen entlassen — ihr
müßt es hinnehmen: es ist wahr. —
392 Kunstwart XXIII, (2