Natürlich kann eine Sage trotzdem
genau so viel Erfindung enthalten,
wie ein Märchen — man wird den
Unterschied doch sofort fühlen. Sie
wird nicht ausschmücken, reich
machen. Sie wird kurz, knapp,
sachlich berichten und sich immer
in jener Nähe des Möglichen halten,
wo das Unheimliche erst seine ganze
Gcwalt bekommt. Und sie wird sich
gern an bestimmte, bekannte Orte
anheften und an Gelegenheiten, Zu°
stände des ganz alltäglichen Lebens,
anMenschen des alltäglichenLebens.
— Nur in einem biegt auch die
Sage, was sie erzählt, subjektiv um:
im Ethischen. Da tritt in ihr ein
starker Glaube an eine sittliche
Weltordnung zutage, die ja ein-
fachen Menschen etwas so selbstver-
ständlich Wirkliches zu sein pflegt
wie das mit Händen greifbare. —
So ist dies Volkssagenbuch, abge-
sehen von aller Unterhaltung, die
es gewährt, eine Belehrung darüber,
was der schlichte Mensch — wenn
auch mit heimlichen Zweifeln — §
für wahr hält und, sei es fürchtend
oder vertraueud, glaubt. Welche
Schönheit der deutschen Seele tritt
da zutage, welche Tiefe des träumen-
den Verwandelns der Wirklichkeit,
welches Fühlen von den — ja auch
für uns deutlich vorhandenen —
wunderbaren Kräften der Seele.
Welche rührende Anmut ist oft einer
solchen kurzen Sage eigen, wie etwa
der von der im Kinderbett gestor-
benen Mutter, die als Geist noch
kommt ihr Kind zu säugen! Und
wie klingt Heimatgefühl und die
ewige Heimatlosigkeit des Menschen
zum Akkord zusammcn in vielen der
Sagen von den Totenseelen im Berg
und im Wind! —
Neben dies Buch primitiver
Volksphantasie legt der Zufall heute
eine Sagensammlung, die zu unserm
schönsten, reifen Besih gehört:
den würdigen Insel-Neudruck von
Schwabs „Sagen des klassischen
Altertums«, ein Werk, mit dem wohl
die meisten von uns heute jung ge°
wesen sind, aus dem uns zuerst die
griechische Götter- und Heroenschar
entgegenschritt, aus dem uns Ilias
und Odyssee mit der Schönheit
Homers vielleicht stärker beglückten,
als später in mühsamen Schul-
stunden die Originale. Es berührt
seltsam, wenn man nach den kurzen
Erzählungen des Volksglaubens
und -Aberglaubens wieder in ent-
wickelten, ausgebauten Kunstsagen
liest, die, so weit sie sich auch vom
Wirklichen entfernen, doch immer
den Charakter der Sage bewahrcn
und ganz selten nur ins Märchen-
hafte ausschweifen. Aus der noch
nahen Gegenwart der Alltagssage
ist Vergangenheit gcworden, den be-
hauptcten Tatsächlichkeitscharakter
haben sie in ihre Verbindung mit
der Geschichte hinübergenommen,
die immer wiedcr bestimmtc, irgeud
einmal noch als wirklich bekannte
Vorgänge und Gestalten als primi-
tiven Wahrheitsbeweis einmischt.
Aber das stärkste Erlebnis dieses
Buches ist für uns wohl alle, wenn
wir heute darin lesen, das Wieder-
erwachen der fast vergessenen Ge°
fühle, mit denen uns das Hclden-
tum hier zuerst mächtig packte,
mit denen wir leidenschaftlich im
Kampf zwischen Griechen und
Troern Partei ergriffen, den Odys-
seus auf seinen Irrfahrtcn beglei-
teten, uns als junge Heraklesse
fühlten und die griechisch-maje-
stätische Klarheit einer überlegenen
Gestalt wie des Theseus dunkel be-
griffen. Mit jeder Aberschrift fast
kommt uns ein Erlebnis wieder!
Aus den altbekannten drei halb-
hohen Bänden sind in dieser neuen
Ausgabe zwei stattlich-große ge-
worden. Der Herausgeber, Or.
Ernst Beutler, hat ihnen ein vom
Leben dieser Sagcn berührtes,
2. Märzheft lM
3YZ
genau so viel Erfindung enthalten,
wie ein Märchen — man wird den
Unterschied doch sofort fühlen. Sie
wird nicht ausschmücken, reich
machen. Sie wird kurz, knapp,
sachlich berichten und sich immer
in jener Nähe des Möglichen halten,
wo das Unheimliche erst seine ganze
Gcwalt bekommt. Und sie wird sich
gern an bestimmte, bekannte Orte
anheften und an Gelegenheiten, Zu°
stände des ganz alltäglichen Lebens,
anMenschen des alltäglichenLebens.
— Nur in einem biegt auch die
Sage, was sie erzählt, subjektiv um:
im Ethischen. Da tritt in ihr ein
starker Glaube an eine sittliche
Weltordnung zutage, die ja ein-
fachen Menschen etwas so selbstver-
ständlich Wirkliches zu sein pflegt
wie das mit Händen greifbare. —
So ist dies Volkssagenbuch, abge-
sehen von aller Unterhaltung, die
es gewährt, eine Belehrung darüber,
was der schlichte Mensch — wenn
auch mit heimlichen Zweifeln — §
für wahr hält und, sei es fürchtend
oder vertraueud, glaubt. Welche
Schönheit der deutschen Seele tritt
da zutage, welche Tiefe des träumen-
den Verwandelns der Wirklichkeit,
welches Fühlen von den — ja auch
für uns deutlich vorhandenen —
wunderbaren Kräften der Seele.
Welche rührende Anmut ist oft einer
solchen kurzen Sage eigen, wie etwa
der von der im Kinderbett gestor-
benen Mutter, die als Geist noch
kommt ihr Kind zu säugen! Und
wie klingt Heimatgefühl und die
ewige Heimatlosigkeit des Menschen
zum Akkord zusammcn in vielen der
Sagen von den Totenseelen im Berg
und im Wind! —
Neben dies Buch primitiver
Volksphantasie legt der Zufall heute
eine Sagensammlung, die zu unserm
schönsten, reifen Besih gehört:
den würdigen Insel-Neudruck von
Schwabs „Sagen des klassischen
Altertums«, ein Werk, mit dem wohl
die meisten von uns heute jung ge°
wesen sind, aus dem uns zuerst die
griechische Götter- und Heroenschar
entgegenschritt, aus dem uns Ilias
und Odyssee mit der Schönheit
Homers vielleicht stärker beglückten,
als später in mühsamen Schul-
stunden die Originale. Es berührt
seltsam, wenn man nach den kurzen
Erzählungen des Volksglaubens
und -Aberglaubens wieder in ent-
wickelten, ausgebauten Kunstsagen
liest, die, so weit sie sich auch vom
Wirklichen entfernen, doch immer
den Charakter der Sage bewahrcn
und ganz selten nur ins Märchen-
hafte ausschweifen. Aus der noch
nahen Gegenwart der Alltagssage
ist Vergangenheit gcworden, den be-
hauptcten Tatsächlichkeitscharakter
haben sie in ihre Verbindung mit
der Geschichte hinübergenommen,
die immer wiedcr bestimmtc, irgeud
einmal noch als wirklich bekannte
Vorgänge und Gestalten als primi-
tiven Wahrheitsbeweis einmischt.
Aber das stärkste Erlebnis dieses
Buches ist für uns wohl alle, wenn
wir heute darin lesen, das Wieder-
erwachen der fast vergessenen Ge°
fühle, mit denen uns das Hclden-
tum hier zuerst mächtig packte,
mit denen wir leidenschaftlich im
Kampf zwischen Griechen und
Troern Partei ergriffen, den Odys-
seus auf seinen Irrfahrtcn beglei-
teten, uns als junge Heraklesse
fühlten und die griechisch-maje-
stätische Klarheit einer überlegenen
Gestalt wie des Theseus dunkel be-
griffen. Mit jeder Aberschrift fast
kommt uns ein Erlebnis wieder!
Aus den altbekannten drei halb-
hohen Bänden sind in dieser neuen
Ausgabe zwei stattlich-große ge-
worden. Der Herausgeber, Or.
Ernst Beutler, hat ihnen ein vom
Leben dieser Sagcn berührtes,
2. Märzheft lM
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