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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 12 (2. Märzheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0492
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Augewandte

Kunst

mir viele, viele zu Seelenfreunden.
Manche Stunden verträumte ich bei
denen „Aus der Tiefe", gewann
Einblick in eine Welt, in der gar
oft jungfroher Optimismus Wur-
zeln geschlagen hatte.

Suchend und sehnend betrachtete
ich die kalten Wände mit deni ver-
innerlichten Bildern in manchem sonst
trostlosen Arbeiterheim, hatte un-
geheuer viel Mißtrauen zu über-
winden, nicht zuletzt die schamhafte
Scheu vor der Sffentlichkeit zu be-
siegen. Sie wollten sich nicht dem
Spott ihrer Kameraden aussetzen,
nicht den kritischen Blicken, die
kühl über das hinglciten konnten,
was aus tiefster Seele gegeben
war. Sie trieben Knnst wie unter
einem Zwange, jenem Zwangc, der
anch die Kunst der Naturvölker
entstehen läßt. Adolf Levenstein

Vom „Kunstsinn"

^>n meiner Iugend stellten wir
Ouns die Scherzfrage, wie man
eine Kanone mache: „Man nimmt
ein Loch und gießt Bronze darum!"
So machten selbst die Almer mittel-
alterliche Denkmäler.

Der alte Almer Maler und
Bildhauer Hans Multscher, ein
tüchtiger Meister, schus für einen
gewisscn Konrad Karg M3 einen
Altar in Sandstein, ein stattliches
Werk. Es stand im Münster in
einer Nische, die aber später ver-
manert wurde. ssM legte man diese
wieder frei. Aber von Multschers
Werk fanden sich nur kümmcrliche
Reste: Ein Stoffgchänge, das fünf
Engel halten, ein paar Ansatzspuren
von Figuren. Man kann daraus
ungefähr schließen, was diese Ge-
stalten dargestellt haben. Inschris-
ten geben weiteren Anhalt. Es
mögen im ganzen Figuren ge°
wesen sein, von denen uns einige
soviel Spuren hinterließen, daß
man ungefähr erraten kann, wie

sie ctwa bewegt gewesen sind:
Kein Kopf, nur wenige Reste der
Oberkörpcr sind erhalten.

Das ist sehr traurig und eine
rechte Lehre dafür, daß man mit
Kunstwerken schonend umgehen
muß. Der Knnstgelehrte kann aus
den Resten noch etwas lernen, für
den Kunstfreund sind sie verloren.

Die Ulmer aber denken anders.
Ihre „Pietät" treibt sie an, den
Altar wiederherzustellen: das heißt
nicht die Pietät vor einem Altar
überhaupt treibt sie an, denn das
Münfter ist protestantisch und der
Altar ist katholisch. Nicht dic Pietät
vor dem Stifter Karg: der ist längst
vergessen! Nicht die Pietät vor dem
einstigen Kunstwerk, denn dies ist
ja nicht mehr vorhanden. Sondern
der „Kunstsinn", jenes wunderliche
Organ des Menschen, das so oft die
tollsten Streiche verübt, treibt sie
an, für die Reste „etwas zu tun".

Es wird also ein Bildhauer an-
gehalten, sich in den Geist Mult-
schers zu versetzen. Multschers
Geist kennt man gar nicht, wohl
aber einzelne Werke dieses Geistes.
Wenn also der Bildhauer die
Werke Mnltschers fleißig nachahmt,
so hofft man, daß der Geist ihres
Schöpfers über ihn komme. Und
nun soll der nroderne Bildhauer
einen Altar machen, so wie er
glaubt, daß der alte gewesen sei,
der also zwar seiner Hände, aber
nicht seines Geistes Werk ist: er
soll mit dcm Kopf Multschers den-
ken, dem vor ^oo Iahren begra-
benen Kopfe, und soll so schaffen,
daß sein Werk als das Werk der
längst verwesten Leiche des mittel-
alterlichen Bildhaucrs erscheint.

Der Führer durch das Münster
wird dann als ehrlicher Mann etwa
so zu berichten haben: „Meine Herr-
schaften, dies hier ist der lsW
hergestellte Altar von jH33. Er ist
von Konrad Karg gcstiftet, und

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Kunstwart XXIII, s2
 
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