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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 23,2.1910

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Heft 12 (2. Märzheft 1910)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.9023#0500
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Hinsicht wehrlos und ohne jede
Orientierung gegenüber. Dann
kommt bei ihnen allen, früher
oder später, das große Erlebnis:
der sozialistische Gedanke, der
Marxismus. Zuerst ist die chilia-
stische Hoffnung auf den Zukunfts-
staat in einer Weise in diesen
Menschen lebendig, daß man deut--
lich einen religiösen Kern der Be-
wegung erkennt. Besonders lehr-
reich sind in dieser Hinsicht Holeks
Schilderungen aus den Anfängen
der Sozialdemokratie. Dann kommt
vor allem ein starkes uud stär-
kendes Bewußtsein einer großen
Gemeinschaft zur Geltung. Man
erhält nicht leicht einen lebendige-
ren Begriff von der Leistung, die
die sozialistische Idee mit der gei-
stigen und sozialen Organisation
dieser wirren, rat- und haltlosen
Masse vollbracht hat, als in diesen
Arbeiterbekenntnissen. Man er-
lebt es unmittelbar mit, wie sie
allen diesen entwurzelten Men-
schen einen Lebensinhalt gegeben
hat; sie alle rechnen erst von da
an ihr wirkliches Leben. Die
sozialdemokratische Idee muß ihnen
alles ersetzen: Heimat, Grund und
Boden, Nation, kirchliche Gemein-
schaft und die alte christliche Welt-
anschauung. Von diesen alten
Besitztümern war in den meisten
Fällen höchstens die hohle Form
zurückgeblieben, die bei der ersten
Berührung mit den sozialistischen
Ideen nun ohne weiteres zusam-
menbricht. Diese Menschen der
groben körperlichen Arbeit führen
daun zum größten Teile eine Art
Doppelleben, sie scheiden streng
zwischen ihrer Berufstätigkeit und
den Interessen ihrer freien Zeit.
Während die Lieder der Hand-
werker aus den früheren Iahr-
hunderten immer ihre Beschäfti-
gung priesen, ist in diesen Zeug-
nissen des proletarischen Seelen-

lebens fast nirgends ein unmittel-
barer, freudiger Zusammenhang
mit der Arbeit zu spüren. Viel-
fach wird die Einförmigkeit der
Beschäftigung klar als der Grund
für ihre Anerquicklichkeit erkannt.
Einer, der Bergmann Hugo Teu-
chert, der sich dieses Doppelzu-
standes uud seiner Halbheit ganz
deutlich bewußt ist, kommt zu einem
höchst auffallenden, ganz reaktionär
klingenden Geständnis: „Ich frage
mich manchmal, ist diese Auf-
rüttelung Wohltat oder ist sie
Plage für das arbeitcnde Volk?
Da komme ich immer zu dem
Schluß: eine Halbbildung wird sich
immer fürchterlich rächen. Man
teilt den Arbeiter sozusagen in
zwei Stücke, wovon sich die eine
Hälfte wie ein Wurm in niedriger
Fron windet, die andre sucht
sich vergeblich Schwingen zu ver-
leihen, um aus dem Labhrinth
von Iammer und Elend heraus-
zukommen." Eine solche unbefrie-
digte Halbbildung, ein solch mühe-
volles Hinwegstreben von dcr un-
mittelbareu Wirklichkeit, ein sol-
cher Mangel an Wirklichkeitsge-
halt und gesundem Mitleben in
der Umwelt macht sich dann in
den meisten der Gedichte geltend,
die Levenstein mitteilt. Eine Aus-
nahme zeigen nur die Stücke, in
denen es sich um jenes große Er-
lebnis der sozialistischen Gemein-
schaft handelt, so die zwei Skizzen
„Streik" und „Bekehrung" von dem
Maschinisten Kühler. Von den
übrigen sind erstaunlich wenige
aus der Wirklichkeit herausgewach-
sen, die meisten streben auf gut
bürgerlich-dilettantische Weise er°
probten und abgebrauchten For-
men nach. Bei den allgemein-
menschlichen Erlebnissen fehlt fast
durchwegs die Eigenart, die Sicher»
heit und Unbefangenheit, die
Naivität und Unmittelbarkeit. We-

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