Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Meyer, Carla; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Stadt als Thema: Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 — Mittelalter-Forschungen, Band 26: Ostfildern, 2009

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34907#0052

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2.1. »Identität« - ein geeignetes Konzept?

51

nen, geprägt und propagiert von sozialen Gruppen zur Identitätsstiftung, wird
in den heutigen Sozialwissenschaften seit Benedict Andersons gleichnamigem
Buch von 1983 unter dem Schlagwort der »imagined communities« gefasst/"
Zugleich wird auf Max Webers Konzeption der »geglaubten Gemeinsamkei-
ten« verwiesen/' Nicht ein »objektiver« oder »substantieller« Wesenskern
also, sondern der Wille zur Gemeinschaft, der »Gemeinsamkeitsglaube« einer
Gruppe formt die kollektive Identität. Diese Erkenntnis ist (im Unterschied zu
den früheren Traditionen der »Heimatgeschichtsforschung«) als Prämisse auch
in die Erforschung regionaler Identitäten eingeflossen, indem diese etwa durch
Bernd Schneidmüller nicht als »überzeitliche [n], raumgebundene [n] Phänome-
ne, sondern Produkte von Sein und Bewußtsein in sozialer und politischer Bin-
dung, nur von ihren Trägern her erklärbar« beschrieben werden.^
Ebenfalls als konsensfähig gilt in der aktuellen Forschung, dass die Demas-
kierung kollektiver Identität als »Erfindung« nicht mit der Zufälligkeit oder
gar Willkür solcher Konstruktionen zu verwechseln ist. Identität ist mehr als
ein beliebiges Sprachspiel oder eine Illusion/^ Erst die Positionierung inner-
halb gesellschaftlicher Bedeutungsmuster, die Entwicklung eines als stabil
und konsistent empfundenen eigenen Standpunktes ermöglicht überhaupt
die Handlungsfähigkeit eines Individuums.^ Die imaginierte Identität hat

geschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter,
in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53,2005, S. 485-500, hier S. 493-496.
40 BENEDICT ANDERSON, Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Na-
tionalem, London 1983. Vgl. PHiupp SARAsiN, Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der
»imagined communities«, in: DERS., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt
a. M. 2003 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1639), S. 150-176, WAGNER, 1998, S. 64, und
MEYER, DARTMANN, 2007. Die in diesen Ansätzen und Studien vorgestellten Konzepte kollekti-
ver Identität fußen alle auf der Annahme, dass sich die Mitglieder einer Gruppe frei und aktiv
für die Teilhabe entscheiden, indem sie die gruppenspezifischen Praktiken und Überzeugun-
gen zu teilen bereit sind. Nach CAROLIN EMCKE, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische
Grundlagen, Frankfurt, New York 2000, S. 18f., ist diese Vorstellung freilich zu ergänzen um
jene Theorien, die von einer gewaltsam erzwungenen und fremdgesteuerten Konstruktion
kollektiver Identität ausgehen, s. dazu auch unten S. 465, Anm. 98.
41 MAx WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. rev. Aufl.
besorgt von JOHANNES WiNCKELMANN, Tübingen 1980, S. 234ff. Zur Rezeption vgl. etwa RoLF
LiNDNER, Einleitung, in: DERS., Die Wiederkehr des Regionalen. Über neue Formen kultureller
Identität, Frankfurt a. M. 1994, S. 1-12, hier S. 11, und SARAsiN, 2003, S. 154.
42 ScHNEiDMÜLLER, 1997, S. 307, s. auch DERS., 1992, S. lOf.
43 Vgl. etwa SARAsiN, 2003, S. 154.
44 Deutlich stärker und selbstverständlicher als in der historischen Literatur ist im soziologi-
schen Diskurs über Identität der Begriff der Handlungsfähigkeit verankert, s. etwa WAGNER,
1998, S. 59f., der die »Aneignung von Bedeutungsmustern als unabdingbarejr] Ressource des
Handelns« beschreibt. Umstritten ist allerdings, ob diese Handlungsfähigkeit mit der autono-
men Entscheidungsfähigkeit des Individuums gleichzusetzen ist oder ob die Einzelperson an-
gesichts des von der Gemeinschaft vorgegebenen regulativen Ideals als sozial determiniertes
und heteronom bestimmtes Wesen zu beschreiben ist. WAGNER, 1998, S. 61, bemerkt zu diesem
Problem: »Das Vorhandensein von >Autonomie< kann nicht empirisch verifiziert werden, da
prinzipiell nicht auszuschließen ist, daß die Gesamtheit der kontextuellen Faktoren - wären
diese nur vollständig erhebbar - das >Handeln< des Menschen erklären könnten.« STRAUB,
1998, S. 81, warnt vor Schwarz-Weiß-Zeichnungen: »Autonomie und Heteronomie sind Ge-
genbegriffe, die im Hinblick auf die Praxis und die das Handeln orientierende Identität von
Personen immer nur akzentuierende Unterscheidungen gestatten.«
 
Annotationen