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Meyer, Carla; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Stadt als Thema: Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 — Mittelalter-Forschungen, Band 26: Ostfildern, 2009

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https://doi.org/10.11588/diglit.34907#0053

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2. Nürnbergs verschiedene (Er-)Fassungen

demnach reale Wirkmacht. Als mentaler oder sozialer »Rahmen«/^ innerhalb
dessen wir unseren Erfahrungen Sinn geben, und als »Umschlossenheit von
einem Sinnhorizont«^ steuert sie politische, wirtschaftliche und gesellschaftli-
che Entscheidungen. Verbindlichkeit erhält sie dadurch, dass sich die jeweilige
Bezugsgruppe auf sie verständigen muss, dass sie somit als innergesellschaft-
licher Kompromiss aus gehandelt wird. Für die Analyse kollektiver Identitäten
ergeben sich damit folgende Überlegungen:
Wenn Identität nicht länger als Entstehung und »Anreicherung« eines inne-
ren Kerns gedacht werden kann, so muss man ihre Existenz über relativ kurze
Kommunikationsereignisse hinaus sogar insgesamt in Frage stellen. Im post-
strukturalistischen Sinn ist sie damit als - wie Rehberg formuliert - »eine nie
enden wollende Vereinheitlichungsleistung von Brüchen«^ zu denken, über
welche die Fiktion der Kontinuität her gestellt wird. Der Erfolg und die lange
Dauer bestimmter kollektiver Groß-Identitäten resultieren aus der Strategie,
bestimmte Werte oder Grenzen als unverrückbar erscheinen zu lassen. Indem
sie als »Substanz« und »Wesenskern«, als »naturwüchsig« und damit als objek-
tiv, unverfügbar und alternativlos dargestellt werden, so etwa Assmann und
Friese, lassen sie sich persönlicher Entscheidbarkeit und politischer Veränder-
barkeit entziehen.^ Es stellt sich daher die Frage: Wie gelingt es ihnen, sprach-
lich oder performativ Stabilität zu suggerieren?
Aber nicht nur die Kontinuität einer kollektiven Identität wird durch die
Diskurskritik auf den Prüfstand gestellt. Zweitens muss auch die Kohärenz der
vielen und vielfältigen Diskurse und symbolischen Akte hinterfragt werden,
die »kollektive Identität« dar- und vorsteHen V In der Psychologie und Sozio-
logie wird der Identität die Funktion der Kontingenzbewältigung zugeschrie-
ben: Sie muss als zufällig oder willkürlich empfundene Erfahrungen ebenso
in ein schlüssiges Selbst- und Weltbild einbinden wie das gleichzeitige Stre-
ben nach unterschiedlichen oder sogar widersprüchlichen Zielen. Eine Analyse
kollektiver Identitäten muss daher fragen: Wie konsistent, lückenlos und wi-
derspruchsfrei muss eine solche postulierte Identität sein, um wirkmächtig zu
sein und zu bleiben?^"

45 Vgl. MAURICE HALBWACHS, Les cadres sociaux de la memoire, Paris 1976.
46 AssMANN, 2002, S. 138.
47 REHBERG, 2004, S. 4; s. auch AssMANN, FRIESE, 1998, S. 12 und 14, EMCKE, 2000, S. 19f. SARAsiN,
2003, S. 168f. verweist für diese Vereinheitlichungsleistung auf die Bedeutung der Sprache als
einziges Medium der Artikulation von Identität und auf das ihr eigene »Gleiten der Signifi-
kate«: Da sie polysemisch sei, bleibe somit jede Identitätskonstruktion zwangsläufig bruch-
stückhaft und offen für Veränderungen.
48 AssMANN, FRIESE, 1998, S. 12. Der Vorgang, durch den bestimmte Inhalte verbindlich und un-
antastbar werden, wird in der Forschung als »Naturalisierung« bezeichnet beziehungsweise
bei JAN AssMANN, 2002, S. 135f. und 159, zusätzlich auch unter den Konzepten »Kanonisie-
rung« beziehungsweise »Sakralisierung« gefasst.
49 WAGNER, 1998, S. 63 und 67. Vgl. etwa auch BoRGOLTE, 1997, S. 191: Schon Foucault habe 1969
an dem von der Annales-Schule favorisierten Begriff der »Mentalitäten« die Konnotation der
Kontinuität und Einheit verworfen; »stattdessen müsse sich die Analyse bemühen, die Aus-
sagen in ihrer reinen Verstreuung wiederherzustellen.«
50 BoRGOLTE, 1997, S. 190. Den Begriff der »Identität«, im Singular gebraucht, trifft damit die-
selbe Kritik, die Borgolte an Studien zu den Begriffen »Mentalitäten« und »Selbstverständnis«
 
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