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Meyer, Carla; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Stadt als Thema: Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 — Mittelalter-Forschungen, Band 26: Ostfildern, 2009

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https://doi.org/10.11588/diglit.34907#0192

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2.3. Politische Dichtung und städtisches »Image'

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mieren, zweitens - etwa durch Publikumsansprachen und die häufige Verwen-
dung der ersten Person Plural - ein Wir-Gefühl innerhalb der eigenen Gruppe
zu stiften und drittens die Position der eigenen Führungsschicht zu stärken.
Damit erwachsen sie also zu einer der attraktivsten Quellengattungen für die
in dieser Studie gewählte Fragestellung. Im Gegensatz zu den annalistischen
Zeugnissen, die sich darauf beschränken, Stadtgeschichte kumulativ zu fassen,
ja, im Wortsinn »anzuhäufen«, wird in diesen Texten Sinn-Deutung und Sinn-
Stiftung betrieben.^ Gerade auch Nürnberger »Identität« konnte und wurde in
ihnen argumentativ verhandelt oder aber überhaupt erst hergesteHtV
Reizvoll für die Frage nach der Thematisierung Nürnbergs und der Nürn-
berger ist insbesondere, dass wir in diesem Genre auch einen ebenso starken
Widerpart fassen können. Denn neben den Dichtungen aus dem - in der Chro-
nistik und Annalistik dominierenden - Blickwinkel der Nürnberger sind allge-
mein anti-städtische, aber auch spezifisch anti-nürnbergische Texte erhalten,
die die Deutungshoheit der Stadtbewohner über die städtische Gesellschaft
häufig scharfzüngig in Frage stellen. Sie zeigen, wie heftig um das »Image«
Nürnbergs und der Nürnberger gerungen wurde. Hier finden sich, wie wir in
der Folge sehen werden, sowohl Diffamierungen und Schmähungen, die pau-
schal gegen die Stadt oder die Städter gerichtet sind, als auch Versuche, einen
Keil zwischen die Städter zu treiben, indem die arme gemam als Opfer darge-
stellt, die patrizische Oberschicht dagegen der Machtgier, Vermessenheit und
Aggression beschuldigt wird.
Da Art, Umfang und Tendenz der Thematisierung Nürnbergs und der
Nürnberger von Text zu Text stark variieren, ist die Auswahl der für die Frage-
stellung relevanten Texte nur als Entscheidung im Einzelfall möglich. Nicht
berücksichtigt wurden Lieder und Reimreden, in denen Nürnberg lediglich als
Schauplatz einer Ereignisschilderung beziehungsweise als ReisestatiotW ge-

66 Zur Aufgabe der »Sinn-Findung«, das heißt, der Auslegung von Ereignissen - eine intel-
lektuelle Leistung, die in den Texten selbst häufig mit dem Substantiv si/M und dem Verb
dedMefew signalisiert und von den Publizisten als göttliche Inspiration interpretiert wird -
vgl. BERND THUM, Der Reimpublizist im deutschen Spätmittelalter. Selbstverständnis und
Selbstgefühl im Lichte von Status, Funktion und historischen Verhaltensformen, in: Lyrik
des ausgehenden 14. und des 15. Jahrhunderts, hg. von FRANZ voN SrECHTLER, Amsterdam
1984 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 1), S. 309-378, hier S. 361, s. auch das Beispiel ebd.,
S. 363.
67 Nach KELLERMANN, 2000, S. 363f., ist dies sogar allgemein als das Grundprinzip zu bestimmen,
nach dem diese Texte funktionieren. Denn wenn sie »in geradezu obsessiver Weise« Gruppen-
identitäten beschwören und an das Gemeinschaftsgefühl appellieren, so interpretiert Keller-
mann dies als notwendige Reaktion auf die Heterogenität ihres Publikums, das nur selten
mit »den notorischen Institutionen der mittelalterlichen Öffentlichkeit« wie Hofgemeinschaft
und Stadtregiment, Ständen und Ämtern übereinstimme: »Diese zunächst nicht institutionali-
sierte okkasionelle Öffentlichkeit selektiert der historisch-politische Ereignisdichter in partei-
liche Gruppierungen, indem er das politische Geschehen tendenziös ausdeutet und das Publi-
kum auffordert, Stellung zu beziehen.«
68 Dies gilt für alle Erwähnungen Nürnbergs in der Dichtung vor dem Ende des 14. Jahrhun-
derts, vgl. etwa Walther von der Vogelweide (Lachmann 84,14): S; frage A mied ud 4Au was
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