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Meyer, Carla; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Stadt als Thema: Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 — Mittelalter-Forschungen, Band 26: Ostfildern, 2009

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https://doi.org/10.11588/diglit.34907#0345

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3. Goldene Zeit oder Krisenzeit?

sprechen Mercers und Eriksons Thesen auch für die kulturhistorische Arbeit
zur Vormoderne ein Set an Vorannahmen und begrifflichen Werkzeugen zur
Analyse von Gruppenbildungsprozessen an die Hand zu geben: Die Krise als
Zwang zu einer (situativen) Artikulation von eigenen Positionen und Selbstbil-
dern - auch in den traditionellen Geschichtswissenschaften ist diese Deutungs-
strategie freilich nicht neu oder unbekannt. Dasselbe Erklärungsmodell ver-
birgt sich intuitiv zumeist hinter der klassischen Frage der Quellenkritik nach
der außerliterarischen C%MS% scn&end; eines Textes: Als typische Funktion wird
historiographischen Werken in der Forschung etwa das Ziel der Herrschafts-
stabilisierung oder -legitimation zugeschrieben. Damit verbunden wird folg-
lich die Suche nach einer konkreten, zumeist politischen Krise oder zumindest
Verunsicherung im Umfeld, die als Ursache oder Auslöser für die Entstehung
eines Werkes benannt werden kann.
Sowohl in den traditionellen als auch in neueren kulturwissenschaftlich
ausgerichteten Arbeiten kann ein solches Analysemuster allerdings dazu ver-
leiten, sozusagen mit dem Blick des Arztes auf den Patienten die vergangene
Welt insgesamt als pathologischen Fall zu betrachten und dementsprechend als
Verfalls- und Verlierergeschichte zu beschreibend Die Zeitzeugnisse dagegen,
deren identitätsstiftendes Potential in dieser Studie ausgelotet werden soll, ver-

erfahrung mit den Erschütterungen der »Moderne« und ihrer prinzipiellen Skepsis gegen-
über vorgegebenen Gewissheiten. Die Identitätshndung sei dem gemäß als typisch moderne
»Rebellion gegen das Schicksal und die Zuschreibung« zu verstehen, ja könne überhaupt erst
unter den Bedingungen der Moderne bewusst werden, so WAGNER, 1998, S. 50-55. S. auch
STRAUB, RENN, 2002, S. 10-31, und STRAUB, 1998, S. 82f. und S. 88: »Vorausgesetzt wird eine
in ihrer besonderen Qualität und zunehmenden Verbreitung spezifisch moderne Erfahrung,
nämlich jene, welche besagt, daß mUd /csfsUM und niemals ein /t'ü aNemal /esigesidh werden
Unn, wer jemand ist, sein will, sein kann« [Hervorhebung im Original]. Als unzulässige »Nos-
trifizierung« verwirft Straub folglich die Studie des Psychologen Erik H. Erikson über Martin
Luther, da der Reformator keine Sinn-, sondern eine Glaubenskrise durchlitten habe, während
der »Sinn des Lebens« für ihn wie für sein ganzes Zeitalter unzweifelhaft fest gestanden habe.
Ist freilich schon dieses stereotype und vereinheitlichende Bild »der Vormoderne« fragwürdig,
so bleibt Straub außerdem die Antwort schuldig, wann er den »Beginn der Moderne« zeitlich
ansetzt. Nach WAGNER, 1998, S. 51f., kann er je nach eigener Einschätzung und Forschungsthe-
ma zurückverlegt werden bis in die »Kultur der Individualität und der Autonomie«, die um
1500 als Elitenkultur ihren Anfang genommen habe. AssMANN, 2002, S. 147f., der den Begriff
der kollektiven Identität auch für die vorantiken Hochkulturen in Anspruch nimmt, wider-
spricht dagegen generell: »so modern ist diese Problematik nicht«.
5 Zur Krise als Epochensignatur des Spätmittelalters, die an Erschütterungen wie Trendeinbrü-
chen, Massensterben, Geldentwertung, Gewaltausbrüchen und Judenpogromen festzuma-
chen sei, vgl. etwa ULF DiRLMEiER, Entfaltung einer Epoche, in: Europa im Spätmittelalter, hg.
von ULF DiRLMEiER, GERHARD FouQUET und BERND FuHRMANN, München 2003 (Oldenbourg
Grundriss der Geschichte 8), S. 1-5, und DERS., Spätmittelalter - eine historiographische Kon-
vention, in: ebd., S. 153-157, wo er Indikatorenbündel für diese Krisen zusammenträgt. Zur
argumentativen Verwendung dieser Indizien vgl. besonders drastisch etwa SARAsiN, 2003,
S. 173, am Beispiel der deutschen Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: »Der Ant-
agonismus, der >Identität< herstellt, lebt ja von der spezifischen Illusion, dass mich mein Feind
oder >Klassenfeind< daran hindert, ganz mich selbst (>Deutscher< oder >Proletarier<, etc.) zu
sein, das heißt, dass ich ihn bekämpfen muss, um zu meiner vollen >Identität< zu gelangen«.
Identität, so Sarasin EBD., S. 170f., sei nie positiv darstellbar, sondern nur als Mangel an vollem
Sein, an Positivität.
 
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