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Meyer, Carla; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Stadt als Thema: Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500 — Mittelalter-Forschungen, Band 26: Ostfildern, 2009

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https://doi.org/10.11588/diglit.34907#0346

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3.1. Identität und Krise

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folgten häufig die gegenteilige Intention. Unbezweifelbar gilt dies vor allem für
das Genre des Städtelobs, das schließlich schon qua Gattungszwang synonym
für eine »Erfolgsstory« der Reichsstadt steht.
Pierre Monnet machte auf diese Diskrepanz zwischen Quellenaussagen
und aktueller Forschungsdeutung bereits im Rahmen seiner Studien zur städ-
tischen Historiographie im spätmittelalterlichen Augsburg aufmerksam.^ Als
Beispiel diente ihm die Bewertung der autobiographisch geprägten Chronik
Burkard Zinks, eines Neubürgers und sozialen »Aufsteigers«, die als Loblied
auf die politische Organisation der Stadt und auf den Fleiß und die Rechtschaf-
fenheit der Einwohner gelesen werden wollte. Wenn, wie Monnet formuliert,
»eine hartnäckige historiographische Tradition« zahlreiche Mediävisten des
20. Jahrhunderts dazu veranlasst habe, in Zinks Idealisierung vor allem das
Indiz für die Zerbrechlichkeit der städtischen Gemeinschaft zu sehen, so sieht
er trotz aller Plausibilität dieser Deutungsmuster in dieser Interpretation auch
eine Reaktion der neueren Forschung auf die Auslegungen des 19. Jahrhun-
derts. Sie schreibt damit gegen eine Deutung an, die in Persönlichkeiten wie
Zink noch das Symbol für den Siegeszug des mittelalterlichen »Bürgertums«
erblickte und sie also im naiv identifikatorischen Sinn als Urahnen der eigenen
bildungsbürgerlichen Klasse vereinnahmte.
Das Misstrauen angesichts eines solchen »Paradigmenwechsels« in der
Interpretation wird noch geschürt durch die Beobachtung, dass die aktuelle
Forschung offenbar unterschiedliche Maßstäbe anlegt, je nachdem, ob sie den
Fokus ihrer Untersuchungen auf personale oder kollektive Identitäten richtet.
Während in den Studien zu autobiographischen Texten und Ego-Dokumenten
der Vormoderne die Identitätsbildung der Protagonisten grundsätzlich zu-
meist positiv gewertet wird, werden historiographische Aussagen über kollek-
tive Identitäten tendenziell eher als krisenbedingte Legitimations- und Stabi-
lisierungsstrategien gelesen. So ließe sich also wissenschaftsgeschichtlich die
Metafrage diskutieren, wie eng diese am Krisenmodell orientierte Deutung der
kollektiven Identitätsentwürfe nicht mit den Quellen, sondern mit der »Meis-
tererzählung« zur über die Krise definierten Moderne zusammenhängt/ Für
das Forschungsgebiet des Spätmittelalters trifft sich letztere überdies mit der
ebenfalls als »Meistererzählung« zu klassifizierenden Vorstellung vom krisen-
haften Niedergang und der daraus geborenen Epochenzäsur.^ Beide »Meister-
erzählungen« aber bestätigen sich so wechselseitig.

6 PiERRE MoNNET, Das Selbst und die Stadt in Selbstzeugnissen aus deutschen Städten des Spät-
mittelalters, in: Kommunikation mit dem Ich. Signaturen der Selbstzeugnisforschung an eu-
ropäischen Beispielen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Bochum 2004 (Europa in der Geschichte 7),
S. 19-37, hier S. 25f.
7 Vgl. dazu oben S. 343, Anm. 4.
8 Einführend zur Epocheneinteilung vgl. ERNST PiTz, Art. Mittelalter, III. Epoche, in: Lexikon
des Mittelalters, Bd. 6, München, Zürich 1993, Sp. 686f. Zu der nach wie vor konträren Dis-
kussion, ob diese Epochengrenze schon im Zeitbewusstsein verankert war oder aber erst in
der Retrospektive als Zäsur wahrgenommen wurde, vgl. als Antipoden etwa GRAus, 1987a,
S. 153-166, und jAN-DiRK MÜLLER, >Alt< und >neu< in der Epochenerfahrung um 1500. Ansät-
ze zur kulturgeschichtlichen Periodisierung in frühneuhochdeutschen Texten, in: Traditions-
 
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