38 I. Konzeptionelle Rahmenbedingungen mittelalterlicher Judendarstellung
1.4 Die Sonderstellung der Juden in der Karfreitagsliturgie
Ein weiterer prägender Faktor für die christliche Wahrnehmung der Juden besteht in
der katholischen Liturgie. Liturgie und Ritus üben einen nicht zu unterschätzenden
Eindruck auf die Gläubigen aus, da sie Glaubensinhalte sinnlich erfassbar gestalten.
Weniger durch die Wortbotschaften, die oftmals von Laien gar nicht verstanden wor-
den sein dürften, als vielmehr durch die spezifischen, physisch erfassbaren Abläufe
vermochte die Liturgie auch das christliche Judenbild zu formen.^ Die Liturgie macht
das Vergangene in der Gegenwart nachlebbar, was gerade in Anbetracht der oben be-
schriebenen mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit von großer Wichtigkeit ist - na-
mentlich in der Karfreitagsliturgie, die in der Forschung auch als »dichte Form der z'mz-
fafz'o Chn'stz« bezeichnet wird.
Am stärksten sind die Juden in der Liturgie während der Karwoche präsent, in
der die Trauer um den schmerzvollen Tod des Erlösers und die Freude über dessen
endgültigen Triumph vorherrschen. Der Ablauf der Karfreitagsfeier besteht aus zwei
Lesungen aus dem Alten Testament, nämlich aus Hosea 6,1-6: das Volk Israel - vorher
mit der untreuen Ehefrau Hoseas verglichen - beschließt, zu seinem Gott zurückzu-
kehren, worauf Gott das Heilsversprechen äußert, allerdings nicht ohne die Unbestän-
digkeit seines Volkes zu rügen.^ Die zweite Stelle aus dem Alten Testament stammt
aus Psalm 140 und handelt von den Frevlern. David bittet seinen Gott um die Errettung
von den bösen und gewalttätigen Menschen: »Wie die Schlangen haben sie scharfe
Zungen und hinter den Lippen Gift wie die Nattern.«^
Es versteht sich fast von selbst, dass von den Christen unter den Treulosen bei Ho-
sea die inzwischen verstoßenen Juden und unter den bösartigen, giftspritzenden Men-
schen aus dem Psalm Davids die als sadistisch geltenden Juden verstanden wurden -
sei es nun bei der Kreuzigung Jesu oder allgemein. Das Bild der giftigen Schlangen
wird Jesus zudem bereits von den Evangelisten in den Mund gelegt, namentlich gegen-
über den ihn angreifenden Pharisäern (vgl. unten S. 48).
Das gilt bis in die Neuzeit. Eine eindrückliche Sammlung von antijüdischen Elementen in
Liturgie, modernen Passionsspielen und Volksbräuchen liefert das Kapitel »Die langen
Schatten des christlichen Antijudaismus«, in: URS ALTERMATT, Katholizismus und Antisemi-
tismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenzen. Zur Kulturgeschichte der Schweiz 1918-
1945, Frauenfeld et al. 1999, S. 59-96.
Zur Liturgie als Gleichsetzung von Vergangenem und Gegenwärtigem vgl. OTTO G. VON
SlMSON, Die Liturgie als heilige Handlung und Dichtung, in: Universitas 3,1 und 2 (1948),
S. 1-18 und 129-147, hier: S. 3f.
KIRN, Contemptus mundi, S. 159.
Hosea 6,1-6: »Kommt, wir kehren zum Herrn zurück! Denn er hat (Wunden) gerissen, er
wird uns auch heilen; er hat verwundet, er wird auch verbinden. [...] Was soll ich tun mit
dir, Efraim? Was soll ich tun mit dir, Juda? Eure Liebe ist wie eine Wolke am Morgen und
wie der Tau, der bald vergeht. Darum schlage ich drein durch die Propheten, ich töte sie
durch die Worte meines Mundes. [...] Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis
statt Brandopfer.« Der letzte Vers wurde auch als Ausdruck des neuen Bundes gelesen, unter
dem Tieropfer nicht mehr notwendig sind (vgl. unten S. 52 die >Judenpredigt< Augustins,
S. 105ff.).
Die maßgeblichen Stellen des Psalms lauten ab Vers 2ff.: »Rette mich, Herr, vor bösen Men-
schen, vor gewalttätigen Leuten schütze mich! Denn sie sinnen in ihrem Herzen auf Böses,
jeden Tag schüren sie Streit. Wie die Schlangen haben sie scharfe Zungen und hinter den Lip-
pen Gift wie die Nattern.«
1.4 Die Sonderstellung der Juden in der Karfreitagsliturgie
Ein weiterer prägender Faktor für die christliche Wahrnehmung der Juden besteht in
der katholischen Liturgie. Liturgie und Ritus üben einen nicht zu unterschätzenden
Eindruck auf die Gläubigen aus, da sie Glaubensinhalte sinnlich erfassbar gestalten.
Weniger durch die Wortbotschaften, die oftmals von Laien gar nicht verstanden wor-
den sein dürften, als vielmehr durch die spezifischen, physisch erfassbaren Abläufe
vermochte die Liturgie auch das christliche Judenbild zu formen.^ Die Liturgie macht
das Vergangene in der Gegenwart nachlebbar, was gerade in Anbetracht der oben be-
schriebenen mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit von großer Wichtigkeit ist - na-
mentlich in der Karfreitagsliturgie, die in der Forschung auch als »dichte Form der z'mz-
fafz'o Chn'stz« bezeichnet wird.
Am stärksten sind die Juden in der Liturgie während der Karwoche präsent, in
der die Trauer um den schmerzvollen Tod des Erlösers und die Freude über dessen
endgültigen Triumph vorherrschen. Der Ablauf der Karfreitagsfeier besteht aus zwei
Lesungen aus dem Alten Testament, nämlich aus Hosea 6,1-6: das Volk Israel - vorher
mit der untreuen Ehefrau Hoseas verglichen - beschließt, zu seinem Gott zurückzu-
kehren, worauf Gott das Heilsversprechen äußert, allerdings nicht ohne die Unbestän-
digkeit seines Volkes zu rügen.^ Die zweite Stelle aus dem Alten Testament stammt
aus Psalm 140 und handelt von den Frevlern. David bittet seinen Gott um die Errettung
von den bösen und gewalttätigen Menschen: »Wie die Schlangen haben sie scharfe
Zungen und hinter den Lippen Gift wie die Nattern.«^
Es versteht sich fast von selbst, dass von den Christen unter den Treulosen bei Ho-
sea die inzwischen verstoßenen Juden und unter den bösartigen, giftspritzenden Men-
schen aus dem Psalm Davids die als sadistisch geltenden Juden verstanden wurden -
sei es nun bei der Kreuzigung Jesu oder allgemein. Das Bild der giftigen Schlangen
wird Jesus zudem bereits von den Evangelisten in den Mund gelegt, namentlich gegen-
über den ihn angreifenden Pharisäern (vgl. unten S. 48).
Das gilt bis in die Neuzeit. Eine eindrückliche Sammlung von antijüdischen Elementen in
Liturgie, modernen Passionsspielen und Volksbräuchen liefert das Kapitel »Die langen
Schatten des christlichen Antijudaismus«, in: URS ALTERMATT, Katholizismus und Antisemi-
tismus. Mentalitäten, Kontinuitäten, Ambivalenzen. Zur Kulturgeschichte der Schweiz 1918-
1945, Frauenfeld et al. 1999, S. 59-96.
Zur Liturgie als Gleichsetzung von Vergangenem und Gegenwärtigem vgl. OTTO G. VON
SlMSON, Die Liturgie als heilige Handlung und Dichtung, in: Universitas 3,1 und 2 (1948),
S. 1-18 und 129-147, hier: S. 3f.
KIRN, Contemptus mundi, S. 159.
Hosea 6,1-6: »Kommt, wir kehren zum Herrn zurück! Denn er hat (Wunden) gerissen, er
wird uns auch heilen; er hat verwundet, er wird auch verbinden. [...] Was soll ich tun mit
dir, Efraim? Was soll ich tun mit dir, Juda? Eure Liebe ist wie eine Wolke am Morgen und
wie der Tau, der bald vergeht. Darum schlage ich drein durch die Propheten, ich töte sie
durch die Worte meines Mundes. [...] Liebe will ich, nicht Schlachtopfer, Gotteserkenntnis
statt Brandopfer.« Der letzte Vers wurde auch als Ausdruck des neuen Bundes gelesen, unter
dem Tieropfer nicht mehr notwendig sind (vgl. unten S. 52 die >Judenpredigt< Augustins,
S. 105ff.).
Die maßgeblichen Stellen des Psalms lauten ab Vers 2ff.: »Rette mich, Herr, vor bösen Men-
schen, vor gewalttätigen Leuten schütze mich! Denn sie sinnen in ihrem Herzen auf Böses,
jeden Tag schüren sie Streit. Wie die Schlangen haben sie scharfe Zungen und hinter den Lip-
pen Gift wie die Nattern.«