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III. Jüdische Gelehrtenfiguren in der mittelhochdeutschen Literaur
aber gleichzeitig glücklich zu schätzen, da er erkennt, dass der Prophet Jesaja wahr ge-
sprochen hat. Das Wunderzeichen wird den anderen Juden kundgetan, doch bewirkt
es bei ihnen nichts - ganz offensichtlich wollen sie das Wunder nicht glauben, auch
wenn das so nicht gesagt wird.^ Simeon allerdings behält alles in seinem Herzen, bis
die Prophezeiung auf seine alten Tage an Maria, die sein nz/M was, erfüllt wird. Die Epi-
sode schließt mit der Identifizierung des Simeon und der Lokalisierung im christlichen
Kirchenjahr: wann er ist der Synwon, der unsern derren an seinem arm yn fempei fräy, da un-
ser /raw nach der aifen ee yewondaii mit ym /nr yie, ais die hn'sfenhaz'f zzoc/z ze der iiecdi mess
deyeef.
Bei dieser Erzählung verbleibt die Zeugenschaft des Gelehrten auf einer persönli-
chen Ebene. Wohl hat Simeon versucht, seine Entdeckung den anderen Juden mitzutei-
len, doch hat das Wunder bei ihnen nichts bewirkt (erstaunlicherweise nutzt der
Verfasser diese Stelle nicht, um die Verstocktheit oder die Blindheit der Juden anzupran-
gern!). Somit bleibt Simeon nichts anderes übrig, als die Prophezeiung in seinem Her-
zen zu bewahren und still auf ihre Erfüllung zu warten - zum wirklichen Zeugen, zum
Verkünder des Wunders, kann Simeon hier nicht werden. Da er aber den Messias zeit-
lebens erwartet und als alter Mann im Jesuskind schließlich erkennt, ist das Wunder
mit den goldenen Buchstaben als Grund seiner persönlichen Bekehrung zu verstehen.
111.2.3. Der Rabbi wird Christ
111.2.3.1 Der Brief des Rabbi Samuel an Rabbi Isaak
Nebst den jüdischen Wunderzeugen auf heiligem und auf christlichem Boden gibt es
eine weitere Strategie, die Figur des jüdischen Gelehrten zur Stärkung des Christen-
tums einzusetzen. Indem man beispielsweise einen gelehrten Rabbi einen Brief an
einen zweiten Rabbi schreiben lässt, in dem jener die unlösbaren Probleme des Juden-
tums und die Wahrheiten des Christentums darlegt, die sich ihm aufgrund der Lektüre
der Propheten erschlossen haben.
In der deutschen Volkssprache findet sich mit Irmhart Ösers > Epistel des Rabbi Sa-
muel an Rabbi Isaak (von der Ankunft des Messias) < das prominenteste und am wei-
testen verbreitete Beispiel dieser Strategie.^ Der Geistliche, dessen Geburts- und Todes-
jahr unbekannt sind, der aber ab 1340 für rund vierzig Jahre als Pfarrer in Strassgang
bei Graz nachgewiesen ist,^ erfand allerdings die Strategie des die Wahrheit erkennen-
den jüdischen Gelehrten nicht. Vielmehr folgte er hierin seiner Vorlage, der lateini-
Vgl. ebd., Dz'fz zaz'chen ward den andern jaden hand ^efan und half auch an yn nicht.
Edition durch MONIKA MARSMANN, Die Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaak. Untersu-
chung und Edition, Diss. München, Siegen 1971.
Archivalien bei HERMANN MASCHEK, Zur deutschen Übersetzungsliteratur des 14. Jahrhun-
derts, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 60 (1936),
S. 320-325; MARSMANN, Epistel, S. 35ff; KARL HEINZ KELLER, Textgemeinschaften im Überlie-
ferungsvorgang. Fallstudie aus der Überlieferung der >Epistel Rabbi Samuels an Rabbi Isaac<
in der volkssprachlichen Übertragung Irmhart Ösers (= GAG 527), Göppingen 1992, S. 151-
156; DERS., Art. »Öser, Irmhart« in: VL 7 *1989, Sp. 84-89; NlESNER, »Wer mit juden well dis-
putiren«, S. 393ff.; das Manuskript UB Graz, Cod. 934, fol. 74 hat: nzaz'ster icnnyart y/drrer ze
Strazz^an^.
III. Jüdische Gelehrtenfiguren in der mittelhochdeutschen Literaur
aber gleichzeitig glücklich zu schätzen, da er erkennt, dass der Prophet Jesaja wahr ge-
sprochen hat. Das Wunderzeichen wird den anderen Juden kundgetan, doch bewirkt
es bei ihnen nichts - ganz offensichtlich wollen sie das Wunder nicht glauben, auch
wenn das so nicht gesagt wird.^ Simeon allerdings behält alles in seinem Herzen, bis
die Prophezeiung auf seine alten Tage an Maria, die sein nz/M was, erfüllt wird. Die Epi-
sode schließt mit der Identifizierung des Simeon und der Lokalisierung im christlichen
Kirchenjahr: wann er ist der Synwon, der unsern derren an seinem arm yn fempei fräy, da un-
ser /raw nach der aifen ee yewondaii mit ym /nr yie, ais die hn'sfenhaz'f zzoc/z ze der iiecdi mess
deyeef.
Bei dieser Erzählung verbleibt die Zeugenschaft des Gelehrten auf einer persönli-
chen Ebene. Wohl hat Simeon versucht, seine Entdeckung den anderen Juden mitzutei-
len, doch hat das Wunder bei ihnen nichts bewirkt (erstaunlicherweise nutzt der
Verfasser diese Stelle nicht, um die Verstocktheit oder die Blindheit der Juden anzupran-
gern!). Somit bleibt Simeon nichts anderes übrig, als die Prophezeiung in seinem Her-
zen zu bewahren und still auf ihre Erfüllung zu warten - zum wirklichen Zeugen, zum
Verkünder des Wunders, kann Simeon hier nicht werden. Da er aber den Messias zeit-
lebens erwartet und als alter Mann im Jesuskind schließlich erkennt, ist das Wunder
mit den goldenen Buchstaben als Grund seiner persönlichen Bekehrung zu verstehen.
111.2.3. Der Rabbi wird Christ
111.2.3.1 Der Brief des Rabbi Samuel an Rabbi Isaak
Nebst den jüdischen Wunderzeugen auf heiligem und auf christlichem Boden gibt es
eine weitere Strategie, die Figur des jüdischen Gelehrten zur Stärkung des Christen-
tums einzusetzen. Indem man beispielsweise einen gelehrten Rabbi einen Brief an
einen zweiten Rabbi schreiben lässt, in dem jener die unlösbaren Probleme des Juden-
tums und die Wahrheiten des Christentums darlegt, die sich ihm aufgrund der Lektüre
der Propheten erschlossen haben.
In der deutschen Volkssprache findet sich mit Irmhart Ösers > Epistel des Rabbi Sa-
muel an Rabbi Isaak (von der Ankunft des Messias) < das prominenteste und am wei-
testen verbreitete Beispiel dieser Strategie.^ Der Geistliche, dessen Geburts- und Todes-
jahr unbekannt sind, der aber ab 1340 für rund vierzig Jahre als Pfarrer in Strassgang
bei Graz nachgewiesen ist,^ erfand allerdings die Strategie des die Wahrheit erkennen-
den jüdischen Gelehrten nicht. Vielmehr folgte er hierin seiner Vorlage, der lateini-
Vgl. ebd., Dz'fz zaz'chen ward den andern jaden hand ^efan und half auch an yn nicht.
Edition durch MONIKA MARSMANN, Die Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaak. Untersu-
chung und Edition, Diss. München, Siegen 1971.
Archivalien bei HERMANN MASCHEK, Zur deutschen Übersetzungsliteratur des 14. Jahrhun-
derts, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (PBB) 60 (1936),
S. 320-325; MARSMANN, Epistel, S. 35ff; KARL HEINZ KELLER, Textgemeinschaften im Überlie-
ferungsvorgang. Fallstudie aus der Überlieferung der >Epistel Rabbi Samuels an Rabbi Isaac<
in der volkssprachlichen Übertragung Irmhart Ösers (= GAG 527), Göppingen 1992, S. 151-
156; DERS., Art. »Öser, Irmhart« in: VL 7 *1989, Sp. 84-89; NlESNER, »Wer mit juden well dis-
putiren«, S. 393ff.; das Manuskript UB Graz, Cod. 934, fol. 74 hat: nzaz'ster icnnyart y/drrer ze
Strazz^an^.