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Haeberli, Simone; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Der jüdische Gelehrte im Mittelalter: christliche Imaginationen zwischen Idealisierung und Dämonisierung — Mittelalter-Forschungen, Band 32: Ostfildern, 2010

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.34910#0278

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111.4 Der jüdische Gelehrte als Witzfigur

Wie jede Figur, die sich vom Mittelmaß abzuheben glaubt, ist gerade auch die Gelehr-
tenfigur als Zielscheibe von Spott geeignet. Handelt es sich zudem um einen jüdischen
Gelehrten, lässt sich die Figur doppelt einsetzen: einerseits als allgemeine Kritik der als
elitär empfundenen Gelehrsamkeit, andererseits als Kritik an der jüdischen Religion.
Gelingt es, einen angesehenen Rabbi vor einem christlichen Publikum als inkompetent,
leichtgläubig oder weltfremd zu entlarven, bedeutet dies nicht nur die Unzulänglich-
keit seiner angeblichen Gelehrsamkeit, sondern zwingend auch die Wertlosigkeit sei-
nes Bekenntnisses und seiner gesamten Religionsgemeinschaft.
Das Panorama der jüdischen Witzfiguren ist breit: es reicht von eher harmlosen
Scherzen bis zur blanken Diffamierung. Grundsätzlich sollte aber nicht hinter allen
Texten mit jüdischen Witzfiguren grassierender Judenhass vermutet werden. An der
>Disputatz< des Hans Rosenplüt wird deutlich, dass ein christlicher Autor einen welt-
fremden Rabbi ohne antijüdische Hetze und Diffamierung auf witzige, durchaus nicht
primitive Weise vorführen kann. Gleichzeitig bleibt bei diesem eher harmlosen Werk
dennoch zu fragen, weshalb trotz bestehendem alternativem Figurenarsenal ein Rabbi
als geeignete Neuerung erachtet wurde und worin die besondere Attraktivität der Fi-
gur gelegen haben könnte.
In zwei Mären des Nürnberger Handwerkerdichters Hans Folz übertölpelt ein
einzelner schlauer Christ die führenden Intellektuellen der örtlichen Juden, so dass die
ganze Gemeinde einen schweren Schaden davonträgt. Obwohl der Tonfall dieser Texte
bereits deutlich aggressiver ist und die hämische Freude über die eben gerade bewie-
sene Dummheit der Juden kaum noch zurückgenommen wird, sind diese antijüdischen
Mären insgesamt immer noch als relativ harmlos einzustufen. Auch dürfte ihr Wir-
kungshorizont eher beschränkt gewesen sein.
Anders verhält es sich bei den spätmittelalterlichen Fastnachtsspielen. Da Fast-
nachtsspiele von der ganzen Stadt und somit allen Bildungsschichten rezipiert wurden,
ließ sich mit ihnen auch Stadtpolitik betreiben. Zumindest im Sinne von Stimmungs-
mache, wie sich an einigen weiteren Werken von Hans Folz zeigen lässt. Folz scheut
mit fortschreitender literarischer Tätigkeit selbst vor sadistischen Bloßstellungen und
fäkalen Demütigungen jüdischer Gelehrter auf der Bühne nicht zurück, um das politi-
sche Ziel des Stadtrats - die Vertreibung der Juden aus Nürnberg - propagandistisch
zu unterstützen.
In diesem letzten Kapitel, das zum Ende hin auch Texte bespricht, auf die heutige
Leser schockiert und angewidert reagieren werden, wird vor allem eines deutlich: mit
dem sozialen und wirtschaftlichen Abstieg der Juden wird auch ihre Diffamierung in
der Literatur in bisher unbekanntem Maße möglich. Das soziale, politische und wirt-
schaftliche Umfeld der Texte muss daher bei der Lektüre in besonderem Maße mitbe-
dacht werden.
 
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