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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 21.1927

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82

BESPRECHUNGEN.

Jahrbuch der Charakterologie. 2. u. 3. Jahrgang 1926, Bd. 2 u. 3. Heraus-
gegeben von Emil Utitz, Panverlag. Rolf Heise, 1926.

In dem vorliegenden Doppelbande entfaltet sich das von Utitz so glücklich
inaugurierte Jahrbuch der Charakterologie noch reicher und vielfältiger, als es der
1. Band bereits erhoffen ließ. Eine in einem Sammelwerk selten gesehene Höhe
des sachlichen Niveaus der Beiträge verbindet sich mit einer solchen Breite des
Materials und einer solchen Mannigfaltigkeit der geistigen Spiegelungen, in denen
es beleuchtet wird, daß es schwer ist, diesen überwältigenden Eindruck in einem
kurzen Bericht einzufangen. Es mag zugegeben werden: noch fehlt der zentrale
Gesichtspunkt der Ordnung und Bewältigung. Aber der Leser empfindet das nur als
einen Reiz und Ansporn mehr; er wird Prinzhorn umso voller darin beipflichten,
daß die charakterologischen Versuche in jedem Falle Spiegelungen der charaktero-
logischen Eigenart und Geistigkeit der Autoren darstellen. Und er wird aus den
Beiträgen zugleich einen starken Eindruck von einer Reihe geistiger Persönlichkeiten
unserer Zeit erhalten, die hier in einer Problemgemeinschaft verbunden ihre Eigen-
kräfte zu gestaltender Wirkung bringen.

Prinzhorn, den wir soeben erwähnten, eröffnet den Band mit einer geistreich-
nüchternen, abwägenden und vergleichenden Erörterung der charakterologischen
Methodenfragen, deren Lösung er in die Psychologie des charakterologischen For-
schers verlegt. Woraus entspringen die Antriebe zu charakterologischen Forschungen?
Was für Menschen fühlen sich gedrungen, Charakterologie zu treiben, und was für
Begabungen bringen sie mit? Aus diesen Quellen muß die charakterologische
Methodenlehre schöpfen, solange es zum Wesen der Charakterdarstellung gehört,
Deskriptives mit Normativem zu verknüpfen. Wie Prinzhorn mit feinsinnigem Takt
diese Fragen bearbeitet und zu einer Kategorisierung der charakterologischen For-
schungseinstellungen selber gelangt, entzieht sich kurzer Wiedergabe. Nicht daß er
daneben nicht auch die sachlichen Erfassungsmöglichkeiten und Ordnungsweisen
des charakterologischen Materials selber erkannte und würdigte: von der Statistik
an bis zur biologischen Konstitutionslehre und der psychischen Dynamik. Aber diese
Wege sind ihm nicht das eigentliche Ziel; dies ist ihm untrennbar mit Wert- und
Sinn Setzung verbunden; und am reinsten spiegelt sich die Eigenart des Charakters
im bewußten Selbsterlebnis des Ich. Für ihn gipfelt nicht ohne Grund das Gebiet
der reinen Charakterologie in der Leistung von Ludwig Klages.

Müller-Freienfels nimmt in einer Studie über Charakter und Erlebnis diesen
Schlußgedanken von Prinzhorn auf. Der Mensch ist nicht ein Produkt aus Vererbung
und Milieu; solche analytische Auffassung eines charakterologischen Positivismus
ist weit entfernt davon, die synthetische Einheit und Ganzheit des Charakters in
seiner Wesensart widerspiegeln zu können. Vom Erlebnis muß ausgegangen werden.
Charaktertypen bestimmen sich aus den Typen des Erlebens: den gefühlshaften
und willenshaften Reaktionen des Ich. So gibt er eine Reihe von charakterologisch
fundamentalen Erlebenstypen, deren Vorläufigkeit er zugesteht, die aber alle ein
Wesensmerkmal zeigen: die Suprematie des Ich gegenüber dem Nichtich. In ihr
gibt sich, so wie sie in der Summe der Erlebnisse manifest wird, der spezifische
Lebensstil eines jeden Charakters kund; ihn kann man niemals restlos auf ratio-
nale Formeln bringen, und dennoch ist er erfaßbar; und aus ihm ist die Reaktions-
form bei neuem Erleben vorherzubestimmen.

Den Höhepunkt des Werkes erklimmt Ludwig Klages mit seinem außerordent-
lichen Beitrag: »Die psychologischen Errungenschaften Nietzsches«. Er geht davon
aus, daß Nietzsches Geistigkeit in ungewöhnlichem Grade lebensabhängig sei und
in einer besonderen Nähe zu der fast noch allein glaubwürdigen Wirklichkeit des
 
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