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Zeitschrift für christliche Kunst — 26.1913

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Heft 1/2
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Witte, Fritz: Unsere Aufgaben: Ein offenes Wort über die kirchliche Kunst an Klerus und Laien
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https://doi.org/10.11588/diglit.4358#0016

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1913. _ ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST -- Nr. 1/2.

10

Knoten gelöst? — Die Realisierung alles
philosophischen Erkennens führt über un-
ebene Wege, da sie in den meisten Fällen
eine herbe Forderung an den Menschen
stellt, nämlich die einer mehr oder minder
starken Selbstver-
leugnung, die immer
dort notwendig ist, wo
Vorurteile, Gewohn-
heiten und auch Ge-
schmacksrichtungen
mit ihren Schein-
gesetzen sich einge-
nistet haben. Wo
immer das historische
Denken und Fühlen
stark wird, da steht
der Menschengeist
unter dem Einfluß
vergangener Zeiten.
Daß er dabei stets
den Abschnitten der
Geschichte mit dem
Herzen am nächsten
steht, die ähnliche
— gleiche ist un-
möglich — Lebensbe-
dingungen zurGrund-
lage und zum Aus-
gangspunkt hatten,
wie die augenblick-
lichen, das ist selbst-
verständlich. Diese
Wahrheit ist nach-
drücklichst zu unter-
streichen, da sie ge-
rade für die Beur-
teilung der kirch-
lichen Kunst von
größter Bedeutung
ist. Immer wieder
treten in der Welt-
geschichte Perioden
auf, die vom Schick-
sale stärker angefaßt
erscheinen, wenn nicht vom Unglück ver-
folgt. Merkwürdig genug, daß sie fast immer
an den Namen einer armseligen Menschen-
person sich knüpfen, die in unbändigem
Eigenwillen Geschicke machen will. Sie
reißt zeitweilig eine halbe Welt mit sich, und
diese vergißt über Streben und Hoffen nach
der Realisierung des Willens ihres Diktators

Abb. 3. Detail zu Abb. 2.

ihre ersten und letzten Aufgaben, sie reißt
den Faden ab, der sie mit der Vergangenheit
verknüpft. Dauert dieser Zustand der abso-
luten umfassenden Hörerschaft lange, dann
verliert die Welt allmählich die 'Spur der
Vorfahren, sie ver-
liert die Übung;
die Voraussetzungen
einer ruhig weiter-
schreitenden, nicht
springenden Kultur
kommen abhanden.
Dann geht es der
Menschheit wie dem
Wanderer in der
Wüste, der, gefangen
genommen von einer
meteorartig auf-

blitzenden Fata mor-
gana, weiter und
weiter diesem Trug-
bilde nachgegangen
ist, bis er des Weges
vergaß und nun ein-
sam und ratlos in
unbekannten Gegen-
den sich sieht.

Mußte nicht zu
Anfang des vorigen
Jahrhunderts die
Entwickelung eine
Hemmung erfahren,
nachdem fast zwei
Jahrzehnte einzig Ka-
nonen und Schwerter
gesprochen, nachdem
die „Aufklärungs-
periode" wie ein ge-
fräßiger Wurm am
alten Gebäude der
Kirche herumgenagt
hatte, um ihr Mark
und Blut verdorren
zu lassen und damit
ihr die ' Lebensbe-
dingungen zu nehmen? Auf diesem aus-
gesogenen Boden einer in Skepsis und
Nüchternheit, in Kälte und völliger Blut-
leere daliegenden Theologie bzw. Religiosität
mochte kümmerlich hier und dort noch
ein Blümlein sprossen, nur eines konnte
keinesfalls groß werden: Die kirchliche
Kunst, nicht einmal die religiöse. Der
 
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