353
1913
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr 12.
354
Stufe des oben besprochenen. Die Zeich-
nung der Figuren ist stellenweise ober-
flächlich und statt der strengen Gemessen-
heit des älteren Bildes erblickt man eine
beinahe unruhige Lebhaftigkeit. Doch an
einer Stelle des Bildes ist diese Lebhaftig-
keit vollkommen gerechtfertigt: es ist die
sowohl künstlerisch als ikonographisch inter-
essanteste Partie des Ganzen. In der
unteren
Ecke rechts
stößt ein
Engel in
langem Ge-
wand, mit
einem klei-
nen Kreuz
auf dem
Kopf, eine
kleine weib-
licheGestalt
von sich.
Diese hält
sich den
Kopf mit
der linken
Hand, läßt
die Rechte
kraftlos sin-
ken und
schreitetmit
schmerzer-
fülltem Aus-
druck vor
dem Engel.
Über ihr
erblicktman
das er-
schrockene
Gesicht und
Abb. 2. Schutzmantelb
die gefalteten Hände eines Jünglings, weiter
oben eine alte Frau, welche wehklagend die
Hände ringt. Diese lebhafte, dramatische
Gruppe fällt bereits aus dem Bereich des
schützenden Mantels, der, zur Steigerung des
Ausdrucks, hier absichtlich zurückgeschlagen
ist. Durch diese Episode kommt ein wir-
kungsvoller Gegensatz in das Bild hinein:
neben jenen, die unter dem Schutze Marias
stehen, sehen wir die Strafe derjenigen,
die dieses Schutzes unwürdig sind. Diese
Gruppe entstand gewiß unter dem Eindruck
ähnlicher Szenen, die in den Darstellungen
des Jüngsten Gerichtes gar häufig vor-
kommen. Die Tendenz ist dieselbe.
In der langen Reihe der von Perdrizet
angeführten und beschriebenen Schutzmantel-
bilder kommt kein dem Gerenyer Bild
ähnliches Beispiel vor. Darum ist dieses
ein interessanter, wertvoller Beitrag zur
Ikonographie unseres Themas. Zu dem
originalen, reich entfalteten Typus tritt nun
ein ur-
sprünglich
fremdes,
doch es in-
haltlich er-
gänzendes,
dessen Wir-
kung stei-
gerndes Mo-
tiv hinzu.
— Doch
auch Per-
drizet kennt
ein Beispiel,
wo Maria
mit dem
Schutzman-
tel in enger
Beziehung
zu dem
Jüngsten
Gericht
steht. In
dem Gemäl-
dezyklusauf
der Orgel-
empore der
Schloß-
kirche zu
Marienburg
ild zu Qercny (Ungarn). erscheinen
Christus als Richter, links von ihm der
hl. Michael mit der Seelenwage, dann die
Verdammten, welche auf die sieben Tod-
sünden symbolisierenden Tieren der Hölle
zu jagen. Rechts von dem Herrn breitet
Maria ihren Mantel über die Auserwählten,
während das letzte Bild die Versammlung
der Seligen darstellt3). Unter dem Mantel
3) Steinbrecht, „Die mittelalterlichen Wand-
gemälde der Schloßkirche zu Marienburg", »Zeit-
schrift für christliche Kunst«. 1889, col. 10. Stein-
brecht bezieht die Jahreszahl der Tribüne (1744) auch
auf die Gemälde. Vgl. Perdrizet, a. a. O. S -20Ö.
1913
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr 12.
354
Stufe des oben besprochenen. Die Zeich-
nung der Figuren ist stellenweise ober-
flächlich und statt der strengen Gemessen-
heit des älteren Bildes erblickt man eine
beinahe unruhige Lebhaftigkeit. Doch an
einer Stelle des Bildes ist diese Lebhaftig-
keit vollkommen gerechtfertigt: es ist die
sowohl künstlerisch als ikonographisch inter-
essanteste Partie des Ganzen. In der
unteren
Ecke rechts
stößt ein
Engel in
langem Ge-
wand, mit
einem klei-
nen Kreuz
auf dem
Kopf, eine
kleine weib-
licheGestalt
von sich.
Diese hält
sich den
Kopf mit
der linken
Hand, läßt
die Rechte
kraftlos sin-
ken und
schreitetmit
schmerzer-
fülltem Aus-
druck vor
dem Engel.
Über ihr
erblicktman
das er-
schrockene
Gesicht und
Abb. 2. Schutzmantelb
die gefalteten Hände eines Jünglings, weiter
oben eine alte Frau, welche wehklagend die
Hände ringt. Diese lebhafte, dramatische
Gruppe fällt bereits aus dem Bereich des
schützenden Mantels, der, zur Steigerung des
Ausdrucks, hier absichtlich zurückgeschlagen
ist. Durch diese Episode kommt ein wir-
kungsvoller Gegensatz in das Bild hinein:
neben jenen, die unter dem Schutze Marias
stehen, sehen wir die Strafe derjenigen,
die dieses Schutzes unwürdig sind. Diese
Gruppe entstand gewiß unter dem Eindruck
ähnlicher Szenen, die in den Darstellungen
des Jüngsten Gerichtes gar häufig vor-
kommen. Die Tendenz ist dieselbe.
In der langen Reihe der von Perdrizet
angeführten und beschriebenen Schutzmantel-
bilder kommt kein dem Gerenyer Bild
ähnliches Beispiel vor. Darum ist dieses
ein interessanter, wertvoller Beitrag zur
Ikonographie unseres Themas. Zu dem
originalen, reich entfalteten Typus tritt nun
ein ur-
sprünglich
fremdes,
doch es in-
haltlich er-
gänzendes,
dessen Wir-
kung stei-
gerndes Mo-
tiv hinzu.
— Doch
auch Per-
drizet kennt
ein Beispiel,
wo Maria
mit dem
Schutzman-
tel in enger
Beziehung
zu dem
Jüngsten
Gericht
steht. In
dem Gemäl-
dezyklusauf
der Orgel-
empore der
Schloß-
kirche zu
Marienburg
ild zu Qercny (Ungarn). erscheinen
Christus als Richter, links von ihm der
hl. Michael mit der Seelenwage, dann die
Verdammten, welche auf die sieben Tod-
sünden symbolisierenden Tieren der Hölle
zu jagen. Rechts von dem Herrn breitet
Maria ihren Mantel über die Auserwählten,
während das letzte Bild die Versammlung
der Seligen darstellt3). Unter dem Mantel
3) Steinbrecht, „Die mittelalterlichen Wand-
gemälde der Schloßkirche zu Marienburg", »Zeit-
schrift für christliche Kunst«. 1889, col. 10. Stein-
brecht bezieht die Jahreszahl der Tribüne (1744) auch
auf die Gemälde. Vgl. Perdrizet, a. a. O. S -20Ö.