146
„Sie sind erstaunt, daß ich von der Frau Baronin
als von Ihrer Fran Mutter spreche? Ich habe zwar
die Erlaubniß hiezu noch nicht aus dem Munde der
verehrten Frau erhalten; aber sie hat sie mir doch ge-
geben,, ohne es selbst zu wissen. Meine Krankheit hat
mich fern von ihr gehalten wahrend langer drei Wochen,
aber nur körperlich fern, ich habe mit ihr in dieser für
mich so traurigen Zeit doch immer in Seelenverbindung
gestanden; ich habe mit ihr gefühlt und mich mit ihr
gefreut, daß endlich ihr edles Herz Befriedigung findet
in der Liebe zu Ihnen. Möge Gott in seiner Gnade
über dieser Liebe walten und sie ihr und Ihnen er-
halten!"
Helene antwortete nichts auf diese rüthselhaftcn
Worte, die, besonders der pathetisch gesprochene Schluß,
ihr recht auffällig in's Ohr tönten; sie mußte unwillkür-
lich an die Warnung ihres alten Freundes, des Geheim-
raths Ritter denken, und ein immer tieferes Mißtrauen
gegen den Professor erfüllte sie. Sie ging ihm schnell
durch den Speisesaal voran, er folgte ihr langsamen
Schrittes nach, schon hatte sie die Thüre des Wohn-
zimmers erreicht und geöffnet, sie stand auf der Schwelle
und das volle Licht fiel durch die geöffnete Thüre auf
ihr Gesicht und zugleich auf das Bild, welches ihr bei
ihrem ersten Eintritt in das Haus der Baronin der
alte Walter gezeigt hatte. Es war eine merkwürdige
Lichtwirkung, gerade der Kopf des Bildes war durch
das einfallcnde Licht fast ebenso hell beleuchtet, wie
Helenens Gesicht.
Der Professor blieb überrascht stehen. Nur einen
Moment dauerte die wunderbare Erscheinung, von der
Helene selbst, die schnellen Schrittes weiter ging, nichts
ahnte, aber in diesem einen Augenblick sah der Professor
dasselbe schöne Mädchenangesicht in der Natur und
auf dem Bilde. Ein neuer Jdeenkreis eröffnete sich ihm
plötzlich! Ein triumphircndes Lächeln verklärte seine
Züge, verschwand aber sofort wieder: als er sich schein-
bar sehr erschöpft in den Lehnsessel neben dem Sopha
niederließ, zeigte sein Gesicht wieder denselben mild
freundlichen, harmlos liebenswürdigen Ausdruck, den
es gewöhnlich trug.
„Lassen Sie sich durch mich nicht stören, mein liebes
gnädiges Fräulein," sagte er, nachdem er mit einem
schnellen Blick sich im Zimmer umgeschaut hatte. „Irre
ich nicht, dann waren Sie bis zu meiner Ankunft mit
der Ausübung Ihrer reizenden Kunst beschäftigt. Es
ist der Vorzug der Malerei, daß der Künstler, wäh-
rend er fleißig mit dem Pinsel schafft, doch ein harm-
loses Gespräch führen kann. Wollen Sie mich recht
verbinden, dann setzen Sie sich wieder dort in Ihre
Fensternische an Ihren Maltifch, Sie ersparen mir dann
das peinliche Gefühl, daß mein Besuch Ihnen lästig
sein konnte."
Helene folgte seiner Aufforderung, dafür dankte er
ihr in einfachen freundlichen Worten, dann lenkte er
das Gespräch auf die Vorgänge der gestrigen Nacht
und es war nur natürlich, daß er sie bat, ihm ihre
Erlebnisse zu erzählen; er habe zwar, so sagte er, be-
reits in Zeitungen die Geschichte des Einbruchs gelesen,
aber solche Zeitungsberichte seien stets entstellt und ge-
färbt. Er hörte mit großer Aufmerksamkeit der ein-
fachen Erzählung zu, in welcher Helene ihre eigene
Thätigkeit so wenig wie nur möglich erwähnte, dann
sprach er seine tiefe Entrüstung über das freche Ver-
brechen und seine Freude darüber aus", daß dasselbe
nicht noch schlimmere Folgen gehabt habe, dabei wußte
er aber zugleich durch geschickt gestellte Fragen Helene
zu veranlassen, daß sie ihm über alle Details die ge-
naueste Auskunft geben mußte.
Er war ein Meister in der Kunst, ein Gespräch zu
führen und nach dem ihm erwünschten Zielpunkt hin-
zuleiten. Helene hatte sich Vorgcnvmmen, möglichst
wortkarg gegen ihn zu sein; die harmlose Freundlich-
keit, welche er ihr zeigte, vermochte das unbestimmte
Mißtrauen, welches sie gegen ihn fühlte, nicht zu be-
siegen, sie antwortete deshalb immer nur kurz auf seine
Fragen, trotzdem aber hatte sie bald, ohne es zu wollen,
ihm nicht nur Alles, was er über das nächtliche Aben-
teuer wissen wollte, in allen, selbst den kleinsten De-
tails erzählt, sie hatte ihm auch ein Bild ihres Lebens
im Hause der Baronin gegeben, sogar von ihrer Ver-
gangenheit hatte sie ihm gesprochen, von ihrem frühe-
ren Leben im Vaterhause, dann von der schweren Zeit
in Berlin, von ihrem Suchen nach Beschäftigung, ihrem
harten Ringen gegen hereinbrechende Noth und dann
von der Befreiung aus derselben durch ihren Eintritt
in das Haus der Baronin. Wie es gekommen, daß
sie ihm dies Alles hatte erzählen müssen, wußte sie
selbst nicht. Er hatte nicht etwa neugierig gefragt und
geforscht, unberechtigte Neugierde würde sie gewiß scharf
znrückgewiesen haben, er hatte eigentlich mehr selbst
gesprochen, als von ihr Auskunft verlangt, da war es
denn ganz von selbst gekommen, daß sie theils bestä-
tigend, theils berichtigend ihm erzählen mußte. Dabei
zeigte er sich so theilnahmvoll, so einfach freundlich
und liebenswürdig, ohne je zudringlich oder überver-
tranlich zu erscheinen, daß ihr Mißtrauen gegen ihn
mehr und mehr schwand und sie keinen Anstand nahm,
Das Buch für Alle.
viel offener mit ihm zu sprechen, als sie es ursprüng-
lich gewollt hatte.
Der merkwürdige Einfluß, welchen der Professor
ini persönlichen Verkehr fast immer auf seine Um-
gebung ausübte, ergriff auch Helene, sie dachte nicht
mehr an die Warnungen des Geheimraths, sie gab
sich willenlos dem bestrickenden Zauber seiner Unter-
haltung hin; sie meinte, sie lausche nur seinen Worten,
als er ihr so interessant und ergreifend erzählte, wie
er einst vor vielen Jahren als junger Mann in der
großen Stadt New-Hork mit dein Hunger gekämpft und
lange vergeblich nach einem zum kargen Lebensunterhalt
hinreichenden Verdienst gesucht habe, und dabei er-
zählte sie ihm doch selbst ihre eigenen vergeblichen Ver-
suche, die endlich nur durch die thatkräftige Unter-
stützung der guten Frau Seibel geglückt waren.
Wie reizend verstand der Professor zu plaudern!
Heiter und gemüthlich, oder ernst und würdig, wie ge-
rade der Gegenstand des Gespräches es erforderte! Fast
eine Stunde verging Helene wie im Fluge, sie wollte
es gar nicht glauben, daß es schon drei Viertel auf
fünf sei, als die Baronin, erholt durch einen ruhigen
Schlummer, aus ihrem Schlafzimmer kam und den un-
erwarteten Gast herzlich begrüßte. Sie freute sich
wahrhaft, ihn zu sehen und dankte ihm, daß er sich
vom Portier nicht habe zurückweisen lassen, sie habe ja
viel, sehr viel mit ihm zu besprechen; sie lud ihn ein,
zum Diner zu bleiben, Helene gab sie den Auftrag,
dafür zu sorgen, daß ein Couvert für den Herrn Pro-
fessor auf den Tisch gelegt werde, sie deutete ihr hie-
durch an, daß sie allein mit ihm zu sein wünsche.
„Sie kommen durch diesen Besuch einem Herzens-
wünsche zuvor, dessen Erfüllung ich kaum zu hoffen
wagte," sagte sie, als Helene das Zimmer verlaßen
hatte. „Heute Abend in Gegenwart vieler Fremden
hätte ich nicht unbeobachtet mit Ihnen sprechen können,
jetzt aber bleibt uns vor Tisch noch eine Viertelstunde
ungestörten Alleinseins. Ich bedarf Ihres Rathes und
ich freue mich, ihn vor dem heutigen Abend einholen
zu dürfen. Ich habe viel erlebt, seit wir uns nicht
gesehen haben, viel Freudiges, und doch habe ich auch
manche schwere Stunde überstanden, wenn bange Zweifel
sich in mir erhoben, ob nicht doch das Glück, dessen
ich mich erfreue, vielleicht nichts ist als ein Traum,
ein Blendwerk der irre geleiteten Phantasie. Oft habe
ich in solchen Momenten des Zweifels an Sie ge-
dacht, oft mir gewünscht, Sie bei mir zu haben; ich
habe mich gesehnt nach Ihnen und Ihrem Rathe!"
„Ich weiß es, gnädige Frau! Während mein elender
Körper durch Krankheit gefesselt war, erhob sich meine
Seele, ich war Ihnen körperlich fern und doch nahe
im Geiste. Ich fühlte cs, nicht durch ein reelles Wissen,
aber durch ein unbewußtes Ahnen, daß Sie mich riefen,
und es erfüllte mich mit tiefem Weh, daß ich dem
Rufe nicht folgen konnte. In der einen Stunde, in
welcher Ihr frommes Gebet erhört wurde, als Sie be-
gnadigt wurden mit der Erscheinung des theuren Ver-
storbenen, als sie ihn sehen, seine Stimme hören durften,
da fühlte auch ich mich hoch beglückt. Das seelische
Band, welches uns umschlingt, ist so innig, daß ich
leide, wenn Sie leiden, daß ich glücklich bin, wenn Sie
cs sind."
„Sie wissen, was ich erlebt habe?"
„Ja, meine verehrte theure Freundin, ich weiß es,
und doch weiß ich es auch nicht! Vor etwa acht Tagen,
cs war am Sonnabend in der Mittagsstunde, saß ich
cingehüllt in Decken, recht schwer körperlich leidend in
meinem Studirzimmer. Ich fühlte mich auch geistig
tief niedergedrückt, das körperliche Leiden, der brennende
Schmerz wirkt ja auch auf die Seele. So oft ich auch,
während ich Ihnen fern bleiben mußte, an Sie gedacht
habe, in jenem Augenblick waren meine Gedanken nicht
bei Ihnen, ich dachte egoistisch nur an mich selbst, an
meinen Schmerz, daran, daß ich vielleicht noch lange
Zeit in diesem peinvollen Zustand der Schwäche und
Krankheit bleiben könne, da Plötzlich war es mir, als
umhülle mich ein flimmernder Nebel, als senke eine
Wolke sich auf mich herab. Ich fühlte keinen Schmerz
mehr, ein wunderbares Wonnegefühl durchdrang mich.
Verließ meine Seele den schmerzgepeinigten Körper?
Ich weiß es nicht! Ich wage es nicht, das Wunder
zu deuten, durch welches ich also begnadigt worden bin.
Ich fühlte mich frei, körperlos, losgelöst von aller
irdischen Pein, mir war's, als schwebe ich leicht in dem
flimmernden mich umgebenden Nebel, als würde ich
von ihm fortgetragen. Ich befand mich nicht mehr in
meinem Studirzimmer, sondern in Ihrer Nähe, ich sah
Sie dicht bei mir im Lehnstuhl sitzen. Sie schauten
sinnenden Blickes empor zu einem an der Wand hängen-
den Bilde; ich sah das Bild, und obgleich nur ein
trübes Dämmerlicht es erhellte, erkannte ich es doch, es
trug Ihre Züge, wie sie gewesen sein müssen in der
schönen, glücklichen Jugendzeit. Ich hatte das Bild
oft gesehen, wenn Abends der Cirkel bei Ihnen im
Speisesaal vereint war, aber niemals hatte ich es be-
achtet, es ist ja das letzte in der Reihe und hängt so
ungünstig, daß es sich der Beobachtung entzieht. Zu
diesem Bilde schauten Sie empor; sie betrachteten es
__M 7.
mit einem Blick voller Liebe. Ihre Lippen bewegten
sich, Sie beteten, ich hörte keinen Ton, aber ich fühlte
es, Sie beteten. Da verdichtete sich plötzlich der Rebel,
in welchem ich schwebte, er ballte sich zusammen, nur
noch im Umriß erkannte ich Ihre Gestalt, dafür aber
trat aus dem Nebel heraus eine andere körperlose Ge-
stalt, ein schöner hochgewachsener Mann mit dunklem
Haar und Bart, es war mir, als müsse ich ihn kennen,
und doch hatte ich ihn nie vorher gesehen. Er schaute
Sie freundlich, zärtlich an, Sie erhoben die Hand, um
die seinige zu ergreifen, aber Sie zogen sie wieder zu-
rück. Dann sprachen Sie zu ihm und er zu Ihnen,
ich hörte nichts, nur ein harmonisches sanftes Klingen
wie Sphärenmusik, erfüllte mein Ohr, er sprach lange,
sanft, mild, zärtlich, wie lange? — ich weiß es
nicht; was? — ich weiß es nicht; aber ich empfand
ein süßes Wonnegefühl, und so wußte ich, daß
das, was er Ihnen sagte, Sie beglückte; dann
beugte er sich nieder' zu Ihnen und küßte Sie und
dann — der Nebel verdichtete sich, ich sah nichts mehr,
weder ihn noch Sie, und als die Wolke, in der ich
schwebte, langsam verduftete, als es wieder hell wurde
um mich her, da saß ich in meinem Studirzimmer, da
fühlte ich wieder den brennenden, quälenden Schmerz.
Habe ich geträumt? Nein! Meine Seele war bei
Ihnen in jener heiligen Stunde; ich wurde theilhaftig
des Glückes, mit dem Sie begnadigt worden sind; nicht
des vollen Glückes, welches Ihnen allein beschicken
war, ich habe nichts gehört, aber ich habe, wie Sie,
den Geist des Verstorbenen gesehen!"
„Mein Herr, mein Gott, ich danke Dir!" sagte die
Baronin, die mit athemloser Spannung, weit vorge-
beugt, den Worten des Professors gelauscht hatte. Sie
faltete die zitternden Hände zum Gebet. „O Gott, wie
groß, wie unendlich ist Deine Gnade! Und ich Un-
dankbare wagte kleinmüthig zu zweifeln! O, Herr
Professor, das Glück, welches Sie mir durch die Lösung
meiner Zweifel gewähren, ist so groß, daß ich Ihnen
dafür niemals, niemals dankbar genug sein kann. Es
ist kein Traumbild, kein Spiel meiner aufgeregten Phan-
tasie gewesen, ich habe ihn gesehen, wirklich gesehen! Und
er hat zu mir gesprochen, ich habe die Worte, die Ihnen
unverständlich geblieben sind, gehört und verstanden!"
„Sie haben gezweifelt? Das war — verzeihen Sie
mir, daß ich es offen sage, aber Offenheit ist eine
Freundschaftspflicht — nicht recht von Ihnen!"
„Ich fühle es selbst. Ich war kleinmüthig! Meine
Schwägerin, der ich anvertraute, was ich gesehen,
warnte mich, einem Traum zu glauben; sie behauptete,
der theure Verstorbene könne mir nicht erschienen sein,
ohne mich aufzufordern, ihr, die er stets so sehr ge-
liebt hat, zu vertrauen, dies sei ein Widerspruch mit
den Worten, die er oft durch Ihre Vermittlung, Herr
Professor, zu mir gesprochen. Ich glaubte ihr nicht,
aber oft, wenn ich nachdachte über das, was sie mir
gesagt hat, überkam mich ein banger Zweifel."
„Wer voll und innig glaubt, kann niemals zwei-
feln. Der Schmerz, den Ihnen Ihr Zweifel verur-
sacht hat, ist die gerechte Strafe für den Mangel des
vollen Glaubens. Ich kann Ihnen diesen Vorwurf
nicht ersparen, gnädige Fran!"
„Er ist berechtigt, ich fühle es, aber er soll mich
nicht wieder treffen. Mein Glaube steht jetzt uner-
schütterlich fest. Jetzt, da auch Sie gesehen, was ich
gesehen habe, kann von einer Selbsttäuschung gar nicht
mehr die Rede sein."
„Sicherlich nicht! Es ist auch unmöglich, daß die
Worte, welche der Geist zu Ihnen gesprochen hat, in
Widerspruch stehen können mit denen, die er, gerufen
durch die geistmagnetische Kraft eines Mediums, früher
sprach. Ich bin überzeugt, daß ich, wenn Sie mir
Vertrauen schenken und mir mittheilen wollen, welche
Worte er in jener heiligen Stunde zu Ihnen gesprochen
hat, Sie vollständig beruhigen kann."
„Ich vertraue Ihnen voll und ganz, Herr Pro-
fessor; aber das, was mein theurer Gatte zu mir ge-
sprochen, hat er eben nur zu mir gesprochen! Gegen
mich, die von ihm so heiß geliebte Gattin, vor der er
nie einen geheimen Gedanken gehabt, konnte er sich
offenbaren, konnte er es aussprechen, daß er einen Jrr-
thum bereue, gegen keinen anderen Menschen auf der
Welt würde er seinen Stolz so tief gebeugt haben."
„Würde er auch mir erschienen sein, wenn er nicht
zu mir das höchste Vertrauen hätte?"
„Gewiß vertraut er Ihnen, wie ich Ihnen vertraue.
Wie oft hat er durch Ihren Mund und durch den des
von Ihnen in geistmagnetischen Schlaf versetzten Me-
diums zu mir gesprochen! Aber das, was er mir
allein gesagt hat, sollte auch Ihnen ein Geheimniß
bleiben! Deshalb ist er Ihnen zwar auch erschienen,
Sie haben ihn gesehen, Sie haben seine Stimme ge-
hört, sie aber nicht verstanden, deshalb hat er auch nie-
mals durch Sie zu mir von dem gesprochen, was in
der geheimsten Tiefe feiner Seele ruht. Das konnte er
nur mir, nur mir allein sagen!"
Der Professor biß sich auf die Lippen; gegen solche
Beweisführung konnte er keine Einwendung erheben;
er forschte nicht weiter.
„Sie sind erstaunt, daß ich von der Frau Baronin
als von Ihrer Fran Mutter spreche? Ich habe zwar
die Erlaubniß hiezu noch nicht aus dem Munde der
verehrten Frau erhalten; aber sie hat sie mir doch ge-
geben,, ohne es selbst zu wissen. Meine Krankheit hat
mich fern von ihr gehalten wahrend langer drei Wochen,
aber nur körperlich fern, ich habe mit ihr in dieser für
mich so traurigen Zeit doch immer in Seelenverbindung
gestanden; ich habe mit ihr gefühlt und mich mit ihr
gefreut, daß endlich ihr edles Herz Befriedigung findet
in der Liebe zu Ihnen. Möge Gott in seiner Gnade
über dieser Liebe walten und sie ihr und Ihnen er-
halten!"
Helene antwortete nichts auf diese rüthselhaftcn
Worte, die, besonders der pathetisch gesprochene Schluß,
ihr recht auffällig in's Ohr tönten; sie mußte unwillkür-
lich an die Warnung ihres alten Freundes, des Geheim-
raths Ritter denken, und ein immer tieferes Mißtrauen
gegen den Professor erfüllte sie. Sie ging ihm schnell
durch den Speisesaal voran, er folgte ihr langsamen
Schrittes nach, schon hatte sie die Thüre des Wohn-
zimmers erreicht und geöffnet, sie stand auf der Schwelle
und das volle Licht fiel durch die geöffnete Thüre auf
ihr Gesicht und zugleich auf das Bild, welches ihr bei
ihrem ersten Eintritt in das Haus der Baronin der
alte Walter gezeigt hatte. Es war eine merkwürdige
Lichtwirkung, gerade der Kopf des Bildes war durch
das einfallcnde Licht fast ebenso hell beleuchtet, wie
Helenens Gesicht.
Der Professor blieb überrascht stehen. Nur einen
Moment dauerte die wunderbare Erscheinung, von der
Helene selbst, die schnellen Schrittes weiter ging, nichts
ahnte, aber in diesem einen Augenblick sah der Professor
dasselbe schöne Mädchenangesicht in der Natur und
auf dem Bilde. Ein neuer Jdeenkreis eröffnete sich ihm
plötzlich! Ein triumphircndes Lächeln verklärte seine
Züge, verschwand aber sofort wieder: als er sich schein-
bar sehr erschöpft in den Lehnsessel neben dem Sopha
niederließ, zeigte sein Gesicht wieder denselben mild
freundlichen, harmlos liebenswürdigen Ausdruck, den
es gewöhnlich trug.
„Lassen Sie sich durch mich nicht stören, mein liebes
gnädiges Fräulein," sagte er, nachdem er mit einem
schnellen Blick sich im Zimmer umgeschaut hatte. „Irre
ich nicht, dann waren Sie bis zu meiner Ankunft mit
der Ausübung Ihrer reizenden Kunst beschäftigt. Es
ist der Vorzug der Malerei, daß der Künstler, wäh-
rend er fleißig mit dem Pinsel schafft, doch ein harm-
loses Gespräch führen kann. Wollen Sie mich recht
verbinden, dann setzen Sie sich wieder dort in Ihre
Fensternische an Ihren Maltifch, Sie ersparen mir dann
das peinliche Gefühl, daß mein Besuch Ihnen lästig
sein konnte."
Helene folgte seiner Aufforderung, dafür dankte er
ihr in einfachen freundlichen Worten, dann lenkte er
das Gespräch auf die Vorgänge der gestrigen Nacht
und es war nur natürlich, daß er sie bat, ihm ihre
Erlebnisse zu erzählen; er habe zwar, so sagte er, be-
reits in Zeitungen die Geschichte des Einbruchs gelesen,
aber solche Zeitungsberichte seien stets entstellt und ge-
färbt. Er hörte mit großer Aufmerksamkeit der ein-
fachen Erzählung zu, in welcher Helene ihre eigene
Thätigkeit so wenig wie nur möglich erwähnte, dann
sprach er seine tiefe Entrüstung über das freche Ver-
brechen und seine Freude darüber aus", daß dasselbe
nicht noch schlimmere Folgen gehabt habe, dabei wußte
er aber zugleich durch geschickt gestellte Fragen Helene
zu veranlassen, daß sie ihm über alle Details die ge-
naueste Auskunft geben mußte.
Er war ein Meister in der Kunst, ein Gespräch zu
führen und nach dem ihm erwünschten Zielpunkt hin-
zuleiten. Helene hatte sich Vorgcnvmmen, möglichst
wortkarg gegen ihn zu sein; die harmlose Freundlich-
keit, welche er ihr zeigte, vermochte das unbestimmte
Mißtrauen, welches sie gegen ihn fühlte, nicht zu be-
siegen, sie antwortete deshalb immer nur kurz auf seine
Fragen, trotzdem aber hatte sie bald, ohne es zu wollen,
ihm nicht nur Alles, was er über das nächtliche Aben-
teuer wissen wollte, in allen, selbst den kleinsten De-
tails erzählt, sie hatte ihm auch ein Bild ihres Lebens
im Hause der Baronin gegeben, sogar von ihrer Ver-
gangenheit hatte sie ihm gesprochen, von ihrem frühe-
ren Leben im Vaterhause, dann von der schweren Zeit
in Berlin, von ihrem Suchen nach Beschäftigung, ihrem
harten Ringen gegen hereinbrechende Noth und dann
von der Befreiung aus derselben durch ihren Eintritt
in das Haus der Baronin. Wie es gekommen, daß
sie ihm dies Alles hatte erzählen müssen, wußte sie
selbst nicht. Er hatte nicht etwa neugierig gefragt und
geforscht, unberechtigte Neugierde würde sie gewiß scharf
znrückgewiesen haben, er hatte eigentlich mehr selbst
gesprochen, als von ihr Auskunft verlangt, da war es
denn ganz von selbst gekommen, daß sie theils bestä-
tigend, theils berichtigend ihm erzählen mußte. Dabei
zeigte er sich so theilnahmvoll, so einfach freundlich
und liebenswürdig, ohne je zudringlich oder überver-
tranlich zu erscheinen, daß ihr Mißtrauen gegen ihn
mehr und mehr schwand und sie keinen Anstand nahm,
Das Buch für Alle.
viel offener mit ihm zu sprechen, als sie es ursprüng-
lich gewollt hatte.
Der merkwürdige Einfluß, welchen der Professor
ini persönlichen Verkehr fast immer auf seine Um-
gebung ausübte, ergriff auch Helene, sie dachte nicht
mehr an die Warnungen des Geheimraths, sie gab
sich willenlos dem bestrickenden Zauber seiner Unter-
haltung hin; sie meinte, sie lausche nur seinen Worten,
als er ihr so interessant und ergreifend erzählte, wie
er einst vor vielen Jahren als junger Mann in der
großen Stadt New-Hork mit dein Hunger gekämpft und
lange vergeblich nach einem zum kargen Lebensunterhalt
hinreichenden Verdienst gesucht habe, und dabei er-
zählte sie ihm doch selbst ihre eigenen vergeblichen Ver-
suche, die endlich nur durch die thatkräftige Unter-
stützung der guten Frau Seibel geglückt waren.
Wie reizend verstand der Professor zu plaudern!
Heiter und gemüthlich, oder ernst und würdig, wie ge-
rade der Gegenstand des Gespräches es erforderte! Fast
eine Stunde verging Helene wie im Fluge, sie wollte
es gar nicht glauben, daß es schon drei Viertel auf
fünf sei, als die Baronin, erholt durch einen ruhigen
Schlummer, aus ihrem Schlafzimmer kam und den un-
erwarteten Gast herzlich begrüßte. Sie freute sich
wahrhaft, ihn zu sehen und dankte ihm, daß er sich
vom Portier nicht habe zurückweisen lassen, sie habe ja
viel, sehr viel mit ihm zu besprechen; sie lud ihn ein,
zum Diner zu bleiben, Helene gab sie den Auftrag,
dafür zu sorgen, daß ein Couvert für den Herrn Pro-
fessor auf den Tisch gelegt werde, sie deutete ihr hie-
durch an, daß sie allein mit ihm zu sein wünsche.
„Sie kommen durch diesen Besuch einem Herzens-
wünsche zuvor, dessen Erfüllung ich kaum zu hoffen
wagte," sagte sie, als Helene das Zimmer verlaßen
hatte. „Heute Abend in Gegenwart vieler Fremden
hätte ich nicht unbeobachtet mit Ihnen sprechen können,
jetzt aber bleibt uns vor Tisch noch eine Viertelstunde
ungestörten Alleinseins. Ich bedarf Ihres Rathes und
ich freue mich, ihn vor dem heutigen Abend einholen
zu dürfen. Ich habe viel erlebt, seit wir uns nicht
gesehen haben, viel Freudiges, und doch habe ich auch
manche schwere Stunde überstanden, wenn bange Zweifel
sich in mir erhoben, ob nicht doch das Glück, dessen
ich mich erfreue, vielleicht nichts ist als ein Traum,
ein Blendwerk der irre geleiteten Phantasie. Oft habe
ich in solchen Momenten des Zweifels an Sie ge-
dacht, oft mir gewünscht, Sie bei mir zu haben; ich
habe mich gesehnt nach Ihnen und Ihrem Rathe!"
„Ich weiß es, gnädige Frau! Während mein elender
Körper durch Krankheit gefesselt war, erhob sich meine
Seele, ich war Ihnen körperlich fern und doch nahe
im Geiste. Ich fühlte cs, nicht durch ein reelles Wissen,
aber durch ein unbewußtes Ahnen, daß Sie mich riefen,
und es erfüllte mich mit tiefem Weh, daß ich dem
Rufe nicht folgen konnte. In der einen Stunde, in
welcher Ihr frommes Gebet erhört wurde, als Sie be-
gnadigt wurden mit der Erscheinung des theuren Ver-
storbenen, als sie ihn sehen, seine Stimme hören durften,
da fühlte auch ich mich hoch beglückt. Das seelische
Band, welches uns umschlingt, ist so innig, daß ich
leide, wenn Sie leiden, daß ich glücklich bin, wenn Sie
cs sind."
„Sie wissen, was ich erlebt habe?"
„Ja, meine verehrte theure Freundin, ich weiß es,
und doch weiß ich es auch nicht! Vor etwa acht Tagen,
cs war am Sonnabend in der Mittagsstunde, saß ich
cingehüllt in Decken, recht schwer körperlich leidend in
meinem Studirzimmer. Ich fühlte mich auch geistig
tief niedergedrückt, das körperliche Leiden, der brennende
Schmerz wirkt ja auch auf die Seele. So oft ich auch,
während ich Ihnen fern bleiben mußte, an Sie gedacht
habe, in jenem Augenblick waren meine Gedanken nicht
bei Ihnen, ich dachte egoistisch nur an mich selbst, an
meinen Schmerz, daran, daß ich vielleicht noch lange
Zeit in diesem peinvollen Zustand der Schwäche und
Krankheit bleiben könne, da Plötzlich war es mir, als
umhülle mich ein flimmernder Nebel, als senke eine
Wolke sich auf mich herab. Ich fühlte keinen Schmerz
mehr, ein wunderbares Wonnegefühl durchdrang mich.
Verließ meine Seele den schmerzgepeinigten Körper?
Ich weiß es nicht! Ich wage es nicht, das Wunder
zu deuten, durch welches ich also begnadigt worden bin.
Ich fühlte mich frei, körperlos, losgelöst von aller
irdischen Pein, mir war's, als schwebe ich leicht in dem
flimmernden mich umgebenden Nebel, als würde ich
von ihm fortgetragen. Ich befand mich nicht mehr in
meinem Studirzimmer, sondern in Ihrer Nähe, ich sah
Sie dicht bei mir im Lehnstuhl sitzen. Sie schauten
sinnenden Blickes empor zu einem an der Wand hängen-
den Bilde; ich sah das Bild, und obgleich nur ein
trübes Dämmerlicht es erhellte, erkannte ich es doch, es
trug Ihre Züge, wie sie gewesen sein müssen in der
schönen, glücklichen Jugendzeit. Ich hatte das Bild
oft gesehen, wenn Abends der Cirkel bei Ihnen im
Speisesaal vereint war, aber niemals hatte ich es be-
achtet, es ist ja das letzte in der Reihe und hängt so
ungünstig, daß es sich der Beobachtung entzieht. Zu
diesem Bilde schauten Sie empor; sie betrachteten es
__M 7.
mit einem Blick voller Liebe. Ihre Lippen bewegten
sich, Sie beteten, ich hörte keinen Ton, aber ich fühlte
es, Sie beteten. Da verdichtete sich plötzlich der Rebel,
in welchem ich schwebte, er ballte sich zusammen, nur
noch im Umriß erkannte ich Ihre Gestalt, dafür aber
trat aus dem Nebel heraus eine andere körperlose Ge-
stalt, ein schöner hochgewachsener Mann mit dunklem
Haar und Bart, es war mir, als müsse ich ihn kennen,
und doch hatte ich ihn nie vorher gesehen. Er schaute
Sie freundlich, zärtlich an, Sie erhoben die Hand, um
die seinige zu ergreifen, aber Sie zogen sie wieder zu-
rück. Dann sprachen Sie zu ihm und er zu Ihnen,
ich hörte nichts, nur ein harmonisches sanftes Klingen
wie Sphärenmusik, erfüllte mein Ohr, er sprach lange,
sanft, mild, zärtlich, wie lange? — ich weiß es
nicht; was? — ich weiß es nicht; aber ich empfand
ein süßes Wonnegefühl, und so wußte ich, daß
das, was er Ihnen sagte, Sie beglückte; dann
beugte er sich nieder' zu Ihnen und küßte Sie und
dann — der Nebel verdichtete sich, ich sah nichts mehr,
weder ihn noch Sie, und als die Wolke, in der ich
schwebte, langsam verduftete, als es wieder hell wurde
um mich her, da saß ich in meinem Studirzimmer, da
fühlte ich wieder den brennenden, quälenden Schmerz.
Habe ich geträumt? Nein! Meine Seele war bei
Ihnen in jener heiligen Stunde; ich wurde theilhaftig
des Glückes, mit dem Sie begnadigt worden sind; nicht
des vollen Glückes, welches Ihnen allein beschicken
war, ich habe nichts gehört, aber ich habe, wie Sie,
den Geist des Verstorbenen gesehen!"
„Mein Herr, mein Gott, ich danke Dir!" sagte die
Baronin, die mit athemloser Spannung, weit vorge-
beugt, den Worten des Professors gelauscht hatte. Sie
faltete die zitternden Hände zum Gebet. „O Gott, wie
groß, wie unendlich ist Deine Gnade! Und ich Un-
dankbare wagte kleinmüthig zu zweifeln! O, Herr
Professor, das Glück, welches Sie mir durch die Lösung
meiner Zweifel gewähren, ist so groß, daß ich Ihnen
dafür niemals, niemals dankbar genug sein kann. Es
ist kein Traumbild, kein Spiel meiner aufgeregten Phan-
tasie gewesen, ich habe ihn gesehen, wirklich gesehen! Und
er hat zu mir gesprochen, ich habe die Worte, die Ihnen
unverständlich geblieben sind, gehört und verstanden!"
„Sie haben gezweifelt? Das war — verzeihen Sie
mir, daß ich es offen sage, aber Offenheit ist eine
Freundschaftspflicht — nicht recht von Ihnen!"
„Ich fühle es selbst. Ich war kleinmüthig! Meine
Schwägerin, der ich anvertraute, was ich gesehen,
warnte mich, einem Traum zu glauben; sie behauptete,
der theure Verstorbene könne mir nicht erschienen sein,
ohne mich aufzufordern, ihr, die er stets so sehr ge-
liebt hat, zu vertrauen, dies sei ein Widerspruch mit
den Worten, die er oft durch Ihre Vermittlung, Herr
Professor, zu mir gesprochen. Ich glaubte ihr nicht,
aber oft, wenn ich nachdachte über das, was sie mir
gesagt hat, überkam mich ein banger Zweifel."
„Wer voll und innig glaubt, kann niemals zwei-
feln. Der Schmerz, den Ihnen Ihr Zweifel verur-
sacht hat, ist die gerechte Strafe für den Mangel des
vollen Glaubens. Ich kann Ihnen diesen Vorwurf
nicht ersparen, gnädige Fran!"
„Er ist berechtigt, ich fühle es, aber er soll mich
nicht wieder treffen. Mein Glaube steht jetzt uner-
schütterlich fest. Jetzt, da auch Sie gesehen, was ich
gesehen habe, kann von einer Selbsttäuschung gar nicht
mehr die Rede sein."
„Sicherlich nicht! Es ist auch unmöglich, daß die
Worte, welche der Geist zu Ihnen gesprochen hat, in
Widerspruch stehen können mit denen, die er, gerufen
durch die geistmagnetische Kraft eines Mediums, früher
sprach. Ich bin überzeugt, daß ich, wenn Sie mir
Vertrauen schenken und mir mittheilen wollen, welche
Worte er in jener heiligen Stunde zu Ihnen gesprochen
hat, Sie vollständig beruhigen kann."
„Ich vertraue Ihnen voll und ganz, Herr Pro-
fessor; aber das, was mein theurer Gatte zu mir ge-
sprochen, hat er eben nur zu mir gesprochen! Gegen
mich, die von ihm so heiß geliebte Gattin, vor der er
nie einen geheimen Gedanken gehabt, konnte er sich
offenbaren, konnte er es aussprechen, daß er einen Jrr-
thum bereue, gegen keinen anderen Menschen auf der
Welt würde er seinen Stolz so tief gebeugt haben."
„Würde er auch mir erschienen sein, wenn er nicht
zu mir das höchste Vertrauen hätte?"
„Gewiß vertraut er Ihnen, wie ich Ihnen vertraue.
Wie oft hat er durch Ihren Mund und durch den des
von Ihnen in geistmagnetischen Schlaf versetzten Me-
diums zu mir gesprochen! Aber das, was er mir
allein gesagt hat, sollte auch Ihnen ein Geheimniß
bleiben! Deshalb ist er Ihnen zwar auch erschienen,
Sie haben ihn gesehen, Sie haben seine Stimme ge-
hört, sie aber nicht verstanden, deshalb hat er auch nie-
mals durch Sie zu mir von dem gesprochen, was in
der geheimsten Tiefe feiner Seele ruht. Das konnte er
nur mir, nur mir allein sagen!"
Der Professor biß sich auf die Lippen; gegen solche
Beweisführung konnte er keine Einwendung erheben;
er forschte nicht weiter.