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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

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Heft 10
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Hrst 10.
halb Tn Dich so Plötzlich zur Abreise rüstest? Er-
nesta sprach von dringlichen Geschäften, ich glaube aber
Grund zu haben, diese Angabe zu bezweifeln. Ist das
richtig?"
„Ja, es ist richtig. Ich wollte Ernesta's Herzens-
glück nicht trüben, deshalb gebrauchte ich eine Noth-
lüge; Dir gegenüber, Tante, finde ich keine Ursache,
die Wahrheit zu verhehlen. Du besitzest Scharfblick ge-
nug und wirst wissen, was mich von hinnen treibt."
„Ich kann es mir denken: die Furcht vor dem Ur-
theil der Welt!"
„Das Urtheil der Welt ist mir gleichgiltig, nicht
gleichgiltig aber kann es mir sein, daß Schimpf und
Schande sich auf den Namen häuft, den ich trage. Ich
will diese Flecken abwaschen und nicht eher werde ich
zurückkehren, ehe man nicht wieder mit Achtung von
den Hartefelds spricht. Auch Du gehörst der Familie
an, Tante, und so magst Du denn wissen, daß man
mir das tunesische Konsulat, an dessen Erlangung ich
große Hoffnungen knüpfte, nur meines schmachbedeckten
Namens, des Namens meines Vaters wegen, vorent-
hielt. Der Sohn eines betrügerischen Bankerotteurs
hat keine Berechtigung auf eine Ehren stellung!"
Frau Reiherstcin senkte die langen Wimpern über
die Augen; sie sprach noch leiser als sonst, ihre Stimme
klang fast wie ein Zischen.
„Es tönt viel Bitterkeit ans Deinen Worten her-
vor, Herr Neffe, aber — wußtest Du nicht seit Jahren,
wie es um Deinen Vater steht? Wußtest Du nicht
seit Jahren, welche Schande den Rainen Hartefeld
drückt?"
Die großen Augen Karl's starrten fragend die
Sprechende an.
„Ich verstehe Dich nicht, Tante. Was meinst Du?
Was willst Du mit Deinen Worten sagen? Weißt
Du nicht, daß ich mich mit dem Lieutenant v. Hagen
im Duell um die Ehre meines Namens geschlagen
habe?"
„Ich weiß cs Du thatest es, trotzdem Dir be-
kannt war, daß die beleidigende Aeußerung, die das
Duell Provocirte, keine müßige Erfindung, keineKlatscherei,
sondern Wahrheit gewesen!"
„Tante! Was sprichst Du da? Keine Ahnung hatte
ich von dieser beschämenden Wahrheit, erst aus dem
Munde meines eigenen Vaters mußte ich die Bestätigung
des Unerhörten erfahren!"
„Erst aus dem Munde Deines eigenen Vaters,"
wiederholte Frau Rosa langsam, „doch wann, Karl —
wann?"
„Wann — wann?! Mein Gott, am Morgen jenes
Duells, nach beendetem Zweikampf! ..."
Eine ganze Weile war es still in dem immer dunkler
werdenden Zimmer, nur die schnellen Athemzüge Karl's
und das leise Knistern des Seidenkleides der Laute war
hörbar.
„Ich will Dir eine Geschichte erzählen/^ sagte Frau
Reiherstein endlich, „vielleicht frischt sie Deine Er-
innerung auf. Laß' mich ruhig sprechen und unterbrich
Mich nicht... Es sind fünfundzwanzig Jahre her, als
Dein Vater, der dazumal in Posen seine kaufmännische
Thätigkeit begann, in einen häßlichen Prozeß verwickelt
wurde. Zur Ausnützung eines industriellen Unter-
nehmens hatte er ein Kapital von zehntausend Thalern,
das ihm ein kleiner Grundbesitzer aus der Umgegend
Posens, Rempen mit Namen, zur Verwaltung über-
geben hatte, auf eigene Verantwortung verwendet. Das
Unternehmen schlug fehl, und Dein Vater meldete
schleunigst seinen Konkurs an. Rempen, der um sein
Vermögen gebracht worden war, beantragte jedoch eine
gerichtliche Untersuchung des Falles, und die Folge
derselben war, daß Dein Vater wegen betrügerischen
Bankerotts zu einer Gefängnißstrafe verurtheilt wurde.
Die ganze Angelegenheit bewegte sich in ziemlich engen
Grenzen, so daß außer den zunächst Betheiligten kein
Mensch etwas davon erfuhr — selbst für mich und
Leopold, meinen Mann, die wir damals in Lyon lebten,
blieb die Sache ein Geheimniß. Nach Verbüßung seiner
Strafe siedelte Dein Vater nach Berlin über und er-
öffnete hier ein Wechselgeschäft. Anfänglich wollte es
nicht so recht damit gehen, und Hanno wandte sich
deshalb mit der Bitte um Unterstützung an Leopold,
der — selbst in guten Vermögensverhältnissen lebend —
dieser Bitte auch bereitwillig nachkam. Mit Leopold's
Gelde arbeitete Hanno nun rüstig weiter, und es schien
ein Segen auf diesem Gelde zu ruhen, denn die Firma
Hartefeld L Ehrenhagen kam zu Ansehen und Ruf.
Anders war es mit uns. Von dem Augenblick an,
da Leopold Deinem Vater feine Hilfe bewilligt hatte,
sank der Glücksstern meines Mannes. Schritt um Schritt
ging es abwärts. Die Lyoner Fabrik, an der Leopold
betheiligt war, wurde subhastirt — Leopold mußte in
Berlin Unterhalt suchen. Das Kapital, das er Deinem
Vater geliehen, hatte er auf Heller und Pfennig zurück-
erhalten, damit war aber auch das Maß der Dank-
barkeit Hanno's erschöpft. Vergeblich versuchten wir
dieses harte Herz zu erweichen — wir bekamen gute
Rathschläge, aber das war auch Alles. Die beständige
Jagd nach einer festen Position hatte Leopold's Kredit

Das Buch sürAlle.

und Ansehen in Berlin so erschüttert, daß hier am
Platze nichts mehr für ihn zu hoffen war. Er faßte
deshalb einen kurzen Entschluß und reiste nach London,
wo er Geschäftsverbindungen aus früherer Zeit her
besaß und Anknüpfungspunkte finden zu können glaubte.
Das Glück lächelte dem Geprüften aber auch in der
fremden Stadt nur für eine kurze Zeit. Neue Fehl-
schläge folgten den alten; dazu kam, daß sein Evm-
Pagnon sich Unredlichkeiten aller Art zu Schulden
kommen ließ und schließlich mit dem letzten Gelde
Leopold's in die Weite ging. Wenige Stunden, nach-
dem mein Mann diese furchtbare Entdeckung gemacht,
hatte er eine nothwendige Zahlung zu leisten. Es
handelte sich nur um tausend Pfund, um nicht mehr —
aber woher sollte er, der arme Bestohlene, der Kredit-
lose, diese tausend Pfund nehmen? — Kurz vor den:
Zahlungstermin fiel ihm ein, daß er vor einiger Zeit
die Bekanntschaft eines Deutsch-Amerikaners gemacht,
eines Herrn Rempen, den er in einer nebeldunklen
Nacht am Themse-Ufer aus den Händen von Strolchen
befreit und der ihm seit dieser Zeit ein auffallendes
Wohlwollen entgegengebracht hatte; vielleicht war dieser
Mann im Stande, ihn aus seiner schrecklichen Situation
zu befreien! Leopold stürzte in die ihm wohlbekannte
Wohnung des Amerikaners und fand den alten Herrn,
bis an den Hals in Tücher gewickelt, bleich und hustend
vor seinem Schreibtische sitzend und mit der Ordnung
von Papieren beschäftigt. In kurzen Worten trug
Leopold sein Anliegen vor; Rempen hörte ihm auf-
merksam zu und lächelte dann trübe. „Wären Sie
gestern gekommen, lieber Freund," entgegnete er, „dann
hätte ich ohne Weiteres Ihrem Wunsche entsprechen
können — heute bin ich es nicht mehr im Stande.
Der Tod, den ich am Red River mit den Giftmiasmen,
die aus den Sumpfniederungen aufsteigen, eingeathmet
habe, sitzt mir in der Kehle; ich weiß genau, auch
ohne die Aerzte danach gefragt zu haben, daß ich nur
noch wenige Tage leben werde, und so habe ich bereits
gestern die letzten Bestimmungen über meine Hinter-
lassenschaft getroffen. Mein Baarvermögen ist an die
Firma Röder L Comp. in Berlin abgegangen, die ich
mit der Ordnung meiner Angelegenheit betraut — ich
selbst habe nur Weniges zurückbehalten, damit das,
was binnen einigen Tagen von mir übrig geblieben
sein wird, auf heimische Erde geschafft werden kann.
Ich bin in einem abenteuerlichen Leben ein etwas selt-
samer Kauz geworden, wundern Sie sich daher nicht
über mein eigenthümliches Wesen! Doch Sie haben
mir einen Dienst erwiesen, ich habe Sie lieb gewonnen
und ich möchte, wenn ich Ihnen auch nicht helfen kann,
Ihnen doch wenigstens gern ein Andenken hinterlassen.
Hier nehmen Sie meine Uhr und hier ein Dokument,
das mir soeben beim Kramen unter meinen alten Pa-
pieren in die Hände gefallen ist. Vor zwei Jahrzehnten
übergab ich einem Posener Bankier zehntausend Thäler;
der Mann verpulverte das Geld und meldete dann den
Konkurs an, der aber nicht anerkannt wurde. Mir
half das Letztere wenig, denn mein Geld erhielt ich
auch dadurch nicht zurück; die Verhältnisse zwangen
mich vielmehr kurze Zeit nach diesem Verlust, mein
kleines Gut zu verkaufen und nach Amerika auszu-
wandern, wo ich mein Glück machte, das heißt, ein
reicher Mann wurde. Der Schuldschein jenes Bankiers,
den ich lange Zeit verloren glaubte, ist mir erst jetzt
wieder unter die Finger gekommen; er hat heute noch
Giltigkeit — nur ist es fraglich, ob in den zwanzig
Jahren Zwischenzeit der Bankier zu Vermögen ge-
kommen oder ob er, Was ich fast glaube, verdorben
und gestorben ist. In dem Hause mir gerade gegen-
über wohnt der Advokat Johnson ; holen Sie ihn her-
über, dann will ich Ihnen meinen Schuldschein in
aller Form Rechtens cediren — vielleicht gelingt es
Ihnen doch noch, denselben zu Gelde zu machen." Als
Leopold die Wohnung des seltsamen Alten verlassen
hatte, schlug es zwölf Uhr: die Stunde, zu welcher er
sich verpflichtet hatte, feine Schuld abzutragen. Ein
Grauen überfiel ihn, eine entsetzliche Angst, und in
diesen Minuten grenzenloser Verzweiflung beging er,
seiner selbst kaum noch fähig — ein Verbrechen. Im
Auftrage Hanno's, Deines Vaters, hatte er bei dem
Hause Smith L Scowland zu öfterem Wechsel auf den
Makler Lemin, dessen Londoner Vertreter damals die
genannte Firma war, begeben. Fußend auf das Ver-
trauen, das man ihm bei Smith L Scowland fchenkte,
fälschte er die Namensunterschrift Deines Vaters . . .
Erst als der entscheidende Schritt geschehen, als er
von dem Erlöse des Accepts, das ohne Weiteres ho-
norirt worden war, seinen Dränger befriedigt hatte,
wurde er sich der Schwere feines Vergehens bewußt.
Halb irr' im Kopf kehrte er nach Hanse zurück, um
daselbst aus dem lächelnden Munde seines Wirthes zu
hören, daß ein Polizist nach ihm gefragt habe. Ein
Polizist? Hatte man bereits feine Fälschung entdeckt?
War man ihm schon auf der Spur? Schleunige
Flucht — das war Leopold's erster Gedanke, doch w ir
fliehen — ohne Geld! Plötzlich fiel ihm ein, daß
jener wunderliche Amerikaner, bei dem er an: Vor-
mittage gewesen war, ihm seine goldene Uhr als „An-

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denken" geschenkt hatte; die Uhr lag noch bei Mr.
Rempen, wenn Leopold sie verkauftes war er in den
Stand gesetzt, wenigstens die Ueberfahrt nach dem
Kontinent zu bezahlen. Zu dem Dokument Rempen's
hatte Leopold wenig Vertrauen, aber schon der Uhr
wegen mußte er sich dem Willen des Amerikaners fügen
und sich die Schuldverschreibung cediren lassen. Leopold
stürzte also eiligst zu dem Advokaten Johnson und mit
diesem zu Rempen, der die Beiden bereits seit Stunden
erwartete. Das Eessionsinstrument wurde ausgestellt,
als aber Leopold Einsicht in dasselbe nahm, fuhr er
mit einem Schrei zurück. Jener Bankier, dem Mr.
Rempen im Juni des Jahres 1851 die zehntausend
Thaler anvertraut hatte, war kein Anderer als — Dein
Vater! ... Leopold verfluchte sein Geschick; hätte er
eine Stunde, nur eine Stunde früher die Cession in der
Hand gehabt, dann wäre er nicht zum Verbrecher ge-
geworden! Smith L Scowland hätten ihm auf den
Schuldschein hin sicher ein kleines Kapital zur Ver-
fügung gestellt - zu spät! zu spät! — Fiebernden
Kopfes überlegte Leopold, was er thun sollte. Noch
jetzt zu Smith L Scowland gehen? — unmöglich! Die
furchtbare Erregung, in der er sich befand, ließ ihn
in jedem Menschen einen Detektiv, einen Verfolger
wittern. Schließlich kam er auf die unglücklichste Idee,
die er überhaupt fassen konnte: er beschloß, sich direkt
an Hanno zu wenden! — Der Erlös für die Uhr
Rempen's ermöglichte ihm die Rückkehr nach Berlin —
das war ein trauriges Wiedersehen für mich und ihn!
In fliegender Hast gestand mir Leopold sein Ver-
brechen ; er fügte hinzu, daß noch Alles zu retten wäre,
da ihn der Zufall im letzten Augenblick in den Besitz
von Papieren gebracht, die für Hanno von größter
Wichtigkeit seien, für deren Eintausch dieser zweifel-
los das vcrhängnißvolle Accept anerkennen und ein-
lösen werde. Er selbst, Leopold, scheue sich aber, dem
Schwager unter die Augen zu treten — ich sollte an
seiner Statt bitten und Hanno die bewußten Papiere
aushändigen. Leopold schrieb einen langen Bittbrief,
packte ihn zu den Dokumenten, versiegelte Alles in
einem Eouvert und übergab mir dasselbe. Vergeblich
hatte ich Leopold gefragt, welchen Inhalts jene Papiere
seien, von denen er so viel erwartete; „sagt Hanno
,neiw," meinte er ernst, „so magst Du cs und mit
Dir alle Welt erfahren, sagt er ,jaß so soll das Ge-
heimniß, das dieses Couvert umschließt, für ewig be-
graben sein!" ... Ich ging zu Hantto, ich fiel vor
ihm nieder und bat für Leopold; mein Bitten und
Flehen hätten des Bruders Herz vielleicht nicht ge-
rührt, doch die Papiere verfehlten ihre Wirkung nicht!
Hanno gab mir sein Wort, daß er für die Einlösung
des gefälschten Accepts Sorge tragen würde — und ich
glaubte ihm. Ich ließ vertrauensselig die Dokumente
in seinen Händen und kehrte glückstrahlend zu Leopold
zurück. Eine kleine Besorgung zwang mich am Mittag
dieses Tages zu einem kurzen Ausgang, als ich heim-
kehrte, stürmten mir bereits die Nachbarn entgegen:
Polizisten waren in unserer Wohnung gewesen und
hatten Leopold verhaften wollen — eine Minute später
sank ich an der Leiche meines Mannes nieder ..."
Die Stimme der Frau Reiherstein war zu leisem
Flüstern geworden, nun versagte sie ganz. Minuten-
lang war es ganz still in dem großen Gemach, dann
seufzte Frau Rosa auf, ihr Seidenkleid rauschte und
knisterte wieder und sie begann von Neuem so leise wie
vorher:
„An jenem Tage brannte es in dem alten Ge-
schäftshaus der Firma Hartefeld L Ehrenhagen in der
Spandauerstraße. Hanno zog in einen neuen Palast
und ich — zog ihm nach, aber nicht der Hunger trieb
mich in sein Haus, sondern die Rache! Sein Dämon
wollte ich werden, sein böser Geist, sein Gewissen —
ich wurde es! ... Trotz der Versicherungen Hanno's,
daß jene Papiere, die ich ihm im Auftrage Leopold's
übergeben, mitverbrannt seien, gab ich doch die Hoff-
nung nicht auf, früher oder später einmal auf irgend
eine Weise deren Inhalt auszukundschaften, um ihn
als Werkzeug meiner Rache benutzen zu können. Eine
höhere oder — eine höllische Macht war mit mir. Vor
Jahresfrist etwa wollte der Zufall, daß ich auf dem
Bodenraum der Villa Hanno's nach einer verloren
gegangenen Kleinigkeit zu suchen hatte. Beim Umher-
stöbern siel mein Auge plötzlich auf einen kleinen
schwarzen Koffer, der tief im Schatten einer Ecke stand.
Ich wußte: es war Dein Koffer, Karl, Du hattest
ihn vor Deiner Abreise mit der Angabe, daß er alte
unwichtige Papiere und dergleichen enthalte, in die
Rumpelkammer schaffen lassen, und dort stand er nun
seit fast drei Jahren, unbeachtet und unberührt. Eine
eigenthümliche Neugier überfiel mich, als ich diesen
kleinen Koffer erblickte. Ich zog meinen Schlüsselbund
aus der Tasche und probirte die Schlüssel, einen nach
dem anderen, im Schloß des Koffers. Es war kein
kunstreicher und komplizirter Mechanismus, wie ich
eigentlich erwartet hatte, denn schon der dritte oder
vierte meiner Schlüifel paßte. Die Kosferdeckel fielen
auseinander, und unter einer Wolke von Staub Prä-
sentirte sich mir eine Menge alter, wirr durcheinander
 
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