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Das Buch für alle: illustrierte Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für die Familie und Jedermann — 20.1885

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Heft 26
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https://doi.org/10.11588/diglit.61341#0593
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606

Diese zwei Papiere waren wichtige Beweisstücke,
besonders der letztere Zettel, der die Behauptung Wilke's,
er kenne den Namen Kelling nicht, Lügen strafen mußte.
Das Verhör mit dem Verhafteten wurde erst Abends
wieder ausgenommen, da inzwischen der Polizeidirektor
die Leute des Hotels Rhein vernehmen und auch in
der Universitätsstadt auf telegraphischem Wege Erkun-
digungen einziehcn ließ.
Wilke trat Abends dem Polizeidirektvr nicht mehr
mit jener Sicherheit und Unverschämtheit gegenüber,
die er Morgens zur Schau getragen hatte. Er war
im Grunde ein etwas schwacher Charakter und besaß
weder die Geistesgegenwart, noch die gelassene Ruhe,
um in einem scharfen Kreuzverhöre Widersprüche zu
vermeiden. Am meisten hatte seine Fassung der Um-
stand erschüttert, daß Sadullah Bey zur Sprache ge-
bracht worden war. Dieser Name schien ihn: beson-
ders fatale Erinnerungen zu erwecken.
Der Polizeidirektor — ein scharfer Beobachter see-
lischer Zustände — ersah denn auch sofort, als Wilke
ihm wieder vorgeführt wurde, daß der Mann schon
durch die vorliegenden Beweismittel zu überführen sein
dürfte, wenn man ihn mit denselben gewissermaßen
überrumple. Und diese Annahme wurde nicht getäuscht.
Er hatte zwar versucht, zu leugnen, als aber der Zettel
mit der Adresse und die Hotelrechnung ihm vorgewiesen
wurden, als die Leute aus dem Hotel Rhein und der
Dienstmann, dem er die Cigarrenkiste übergeben hatte,
ihn mit Bestimmtheit wiedererkannten, da brach seine
Widerstandskraft, und am Ende des fünfstündigen Ver-
hörs erklärte er endlich: „Ich will Alles gestehen."
Er gab nun Folgendes zu Protokoll:
„Ich heiße richtig Johann Gottlieb Willeke, bin zu
Mülhausen als Sohn eines Fabrikinspektors geboren
und habe eine gute Erziehung genossen. Im Alter von
zwanzig Jahren erhielt ich eine Stelle in einem Hand-
lungshause zu Verviers, welche ich fünf Jahre inne-
hatte, bis der Bankerott dieses Handlungshauses ein-
trat. Es gelang mir nicht gleich, eine andere Stelle
zu finden, und ich war einige Monate ohne Beschäf-
tigung. In jenem Handlungshause war auch ein aus
Verviers gebürtiger junger Mann, Namens Karl Maria
Erdmann, bedienstet gewesen, mit welchem ich Freund-
schaft geschlossen hatte. Auch dieser befand sich in der
gleichen Lage wie ich, und da schlug er mir eines
Tages vor, mit ihm nach dem Oriente zu gehen, um
dort unser Glück zu versuchen. Er sagte mir, daß zur
Zeit eben große geschäftliche Unternehmungen in Kon-
stantinopel im Gange wären, und es würde uns leicht
gelingen, dort eine entsprechende Stellung zu finden.
Ich hatte von jeher eine große Lust, fremde Länder-
kennen zu lernen, und ging bereitwillig auf den Vor-
schlag ein. Ich verschaffte mir von meinen Eltern die
Mittel zur Reise, und wir gingen nach Konstantinopel.
Dort sanden wir nach einiger Zeit Beschäftigung bei
der Unternehmung der türkischen Bahnbauten, wurden
jedoch nach etwa einen: Jahre wieder entlassen, da die
Bureaux aufgelöst wurden. Wir suchten nun eine
andere Stelle, es gelang uns aber nicht, irgend eine
dauernde und uns zusagende zu finden; wir mußten
uns zu niedrigen Dienstleistungen bequemen, und auch
solche Beschäftigungen fanden sich nicht immer, so daß
wir oft Noth litten. Da lernte Erdmann zufällig einen
Landsmann kennen, welcher Major in türkischen Diensten
war und als solcher den Namen Sadullah Bey führte.
Dieser nahm Erdmann als Sekretär zu sich, und später-
erhielt ich auf Verwendung des Freundes die Stelle
eines Dieners bei den: erwähnten Sadullah Bey. Nach
einiger Zeit verließ dieser den Dienst in der türkischen
Armee, da er eine Konzession für ein Bergwerk in
Kleinasien sich zu verschaffen gewußt hatte und diese
nun zu verwerthen trachtete. Aus diesem Grunde reis-
ten wir nach Smyrna, wo wir einige Monate ver-
weilten. Bei dem Einstürze eines Kaffeehauses ver-
unglückte Sadullah Bey, und wir konnten keinen Zweifel
darüber hegen, daß er todt sei. Erdmann schlug mir
vor, uns die Hinterlassenschaft Sadullah's anzueignen,
ich willigte ein, und wir theilten, was wir vorfanden.
Erdmann überließ mir den größeren Theil des baaren
Geldes, das etwa achthundert türkische Lire betrug, dagegen
behielt er die Papiere des Verstorbenen. Wir reisten
sogleich von Smyrna ab, und es gelang auch Erd-
mann, die Konzessionsurkunde an einen griechischen
Bankier in Galata zu verkaufen. Auch dieses Geld
wurde getheilt, und ich erhielt abermals die größere
Hälfte. Auf meine Frage, weshalb Erdmann so groß-
müthig handle, gab er mir zur Antwort: ich sei nicht
so findig wie er und werde mehr Geld brauchen, um
vorwärts zu kommen, er dagegen würde sich leichter
durchschlagen. In Konstantinopel trennten wir uns;
auf den Rath Erdmann's begab ich mich nach Ame-
rika. In den vereinigten Staaten hatte ich wech-
selndes Glück; ich kam zu einem kleinen Vermögen,
verlor es wieder in unglücklichen Spekulationen, arbei-
tete mich jedoch abermals empor und kehrte vor andert-
halb Jahren mit einer Summe von etwa fünftausend
Dollars nach Europa zurück. Ich gedachte hier irgend
ein Geschäft in's Leben zu rufen, fand aber die Aer-

DaZ Buch für Alle.
hältnisse nicht günstig und wollte abwartcn, bis sich
mir eine Paffende Gelegenheit biete. Da traf ich zu-
fällig Erdmann, dem es mit Hilfe der Papiere Sa-
dullah Bey's gelungen war, sich eine Stellung in der
Gesellschaft zu verschaffen.
Sadullah war ein belgischer Edelmann gewesen
und hieß — Franyois Chevalier de Ferrer.
So viel ich erfahren hatte, war er der Letzte seines
Geschlechtes, hatte sein kleines Besitzthum verkauft und
war aus Abenteuerlust ebenfalls nach den: Orient ge-
gangen, wo er in der türkischen Armee Dienste nahm.
Da Erdmann im Besitze der authentischen Papiere de
Ferrer's war, dieser keine Familienangehörigen besaß,
auch lange schon von der Heimath abwesend gewesen
war, so wurde es Jenen: leicht, die Rolle des Cheva-
liers de Ferrer zu spielen, ohne eine Entdeckung be-
fürchten zu müssen. Ich fand ihn hier als Guts-
besitzer und vermählt; wie es schien, lebte er in sehr-
behaglichen Verhältnissen. Ich verlangte nun von
ihm, er solle mir helfen, auch zu einer so behag-
lichen Existenz zu gelangen, wie er, und er sagte es
mir zu, freilich etwas widerwillig. Wir kamen hier-
öfter in der Residenz zusammen, und da eröffnete
er mir nun eines Tages, er würde mir verhelfen,
ebenfalls ein Gutsbesitzer zu werden, wenn ich ihn:
nieine Unterstützung leihe, um eine ihm im Wege
stehende Person aus den: Wege zu schaffen. Meine
Bedenken wußte er durch- seine Ueberredungskunst zu
zerstreuen und er malte mir die Zukunft in so ver-
lockenden Farben, daß ich schließlich einwilligte. Er
versicherte mich, daß keine Gefahr dabei sei und er jeden
Verdacht von mir ablenken werde. Er bezeichnete mir
die Person; es war ein junger Student Namens Her-
mann v. Kelling, der in einer rheinischen Universitäts-
stadt lebte. Ich ging dorthin, beobachtete den mir
Bezeichneten und seine Lebensgewohnheiten Und ersah
einmal die Gelegenheit, ihn allein zu treffen. Der Ver-
such mißglückte jedoch. Erdmann war sehr ungehalten
und entwarf nun einen anderen Plan. Er sagte mir,
daß er Eile habe, zu seinem Ziele zu gelangen, und
keine Zeit verlieren dürfe. Was der Grund dieser Eile
sei, erfuhr ich nicht. Erdmann brachte mir nun ein
Kistchen Cigarren und trug mir auf, dasselbe mit der
größtmöglichsten Vorsicht an die angegebene Adresse
zu befördern. Ich führte den Auftrag aus und ge-
brauchte alle Vorsicht dabei. Ich war aus diesen:
Grunde aus dem Hotel Daniel' nach dem Hotel Rhein'
übergesiedelt, wo ich unter einem anderen Namen Quar-
tier nahm. Nach der Absendung deS Kistchens verließ
ich das Hotel wieder und bezog eine Wohnung im
Hotel Lum Kurfürsten' unter dem Namen Wilke, den
ich seit meinem Aufenthalte in Amerika führe."
Das waren die Bekenntnisse des „Rentiers John
Wilke aus Chicago".
17.
Das Geständniß Wilke's hatte zwar die Verbrechen
enthüllt, deren Opfer die Familie Kelling geworden
war, aber die Motive derselben blieben noch in geheim-
nißvolles Dunkel gehüllt. Darüber konnte nur der
eigentliche Urheber Aufschluß geben. Der Polizeidirektor
hatte natürlich sofort die Befehle betreffs Verhaftung
des angeblichen Chevaliers de Ferrer erthcilt; als aber
die telegraphische Ordre der Behörde, in deren Amts-
bezirk Windenau gehörte, zukam, hatte der Chevalier
bereits seinen Wohnsitz verlassen, er war früh Morgens
mit den: ersten Zuge nach der Hauptstadt abgereist.
Das Mißglücken des Anschlages auf Hermann hatte
dein Chevalier in der That Sorge gemacht, und des-
halb wollte er mit seinem Mitschuldigen Rücksprache
pflegen.
Dazu kam nun noch ein Umstand, der sehr auf sein
Gemüth wirkte — obwohl noch Niemand ahnte, wes-
halb — und das war die Nachricht, daß Gräfin Ida
Roden Plötzlich gestorben sei. Als er vor zwei Tagen
diese Kunde erhielt, war er so bleich geworden, daß
seine zufällig anwesende Frau fast glaubte, er werde
bewußtlos werden.
In gedrückter Stimmung kam er in der Residenz
an und fuhr nach den: Hotel -Zum Kurfürsten', um
Wilke aufzusuchen. Der Polizeidirektor hatte für alle
Fälle einen Geheimagenten in das Hotel gesendet, eben
in der Voraussicht, daß etwa Personen nach den: Ver-
hafteten fragen könnten. Als daher der Chevalier de
Ferrer bei dem Portier des Hotels sich nach Wilke
erkundigte, wies ihn dieser an den in der Loge an-
wesenden Agenten, der die Frage mit der Gegenfrage
erwiederte: wen er anmeldcn solle. Der Chevalier
machte zwar ein etwas erstauntes Gesicht darüber, daß
sein Freund sich Besucher „anmelden" lasse, nannte
aber ohne Weiteres seinen Namen.
Der Chevalier wurde darauf sofort verhaftet und in's
Verhör genommen, dessen Verlauf sich nach dem Vorher-
gegangenen leicht errathen läßt. Er hatte natürlich auch
Alles, was man ihm zur Last legte, rundweg abzu-
leugnen gesucht und den Entrüsteten gespielt, angesichts
der Aussagen Wilke's, der ihn: gegenübergestellt wurde,
sah er jedoch die Unmöglichkeit ein, seine Behauptungen

Ljcst 26.
aufrecht zu erhalten. Der Polizei mußte es ja nun ein
Leichtes fein, in allen Punkten ihn zu überführen und
die Beweismittel für seine Schuld herbeizuschaffen.
Seine Rolle, die er Jahre hindurch mit so viel Glück
durchgeführt hatte, war — ausgespielt, darüber war
er sich klar. So entschloß er sich denn ebenfalls
zu Geständnissen, die nun volles Licht in die Sache
brachten.
Nachdem er sich in Konstantinopel von Wilke ge-
trennt, bereiste er Italien, die Schweiz und Deutsch-
land, und hielt sich meist in vielbesuchten Bädern und
Saison-Orten ans. Er fand Zutritt in der vornehmen
Gesellschaft, und er begleitete dann ein Jahr lang einen
französischen Herzog auf seinen Reisen. Seine Absicht
war, auf Grund feines Titels eine reiche Heirath zu
machen. In Nizza machte er die Bekanntschaft eines
Herrn v. Seebach, der ihn den Gräfinnen Herbart und
Ida v. Roven vorstellte. In Gräfin Roven glaubte
er nun die Gesuchte gefunden zu haben, ihre Schönheit
erweckte zudem eine heftige Leidenschaft in ihm, und er
war entschlossen, Alles daran zu setzen, um sie zu errin-
gen. Seine leidenschaftliche Zuneigung wuchs von Tag zu
Tag, und Gräfin Ida erkannte bald, daß er um ihret-
willen zu Allem fähig sei. Nur so ließ eS sich erklären,
daß sie ihm Bedingungen zu stellen wagte, welche nicht
leicht Einer zu erfüllen den Muth gehabt hätte. Sie
forderte nichts Geringeres, als daß er eine Beleidigung
räche, welche man ihr angethan habe. Sie sei bereit, er-
klärte sie, ihn: ihre Hand zu reichen, wenn er ihr die
gewünschte Genugthuung verschaffe. Er stellte sich zu
ihrer Verfügung und betheuerte, jeden Wunsch zu er-
füllen, den sie hege: er würde selbst das Unmögliche
möglich machen. Nun enthüllte sie ihm ihre Absichten,
die ihn fast schaudern machten, aber er war schon zu
sehr Sklave feiner Leidenschaft, als daß er die Kraft
besessen hätte, sich znrückzuziehen. Mit einer erschrecken-
den Offenheit thcilte sie ihn: mit, daß sie einen Mann
geliebt habe, der sie verschmähe und nun mit einer-
anderen Dame verlobt sei. Diese Ehe dürfe nie zu
Stande kommen. Der Freund dieses Mannes habe sie
ferner bitter verspottet, überdies sei er der Bruder
jener Dame. Dafür müsse auch dieser büßen. Die
ganze Familie sei überhaupt ihr feindlich und solle
gedemüthigt werden; je mehr Unglück sich auf die-
selbe häufen lasse, desto dankbarer werde sie sein. Sie
nannte ihm dann die Namen der Personen, an welchen
sie Rache üben wollte; es waren dies der Premier-
lieutenant van Son und die Familie Kelling. Er
versprach, ihre Wünsche zu erfüllen. Gräfin Ida war
es selbst, die nun Vorschlag, er solle sich um die
ältere Tochter des Freiherrn, die er sicher bekommen
werde, bewerben; sobald der Zweck vollständig erreicht
wäre, habe sie mit furchtbaren: Blicke hiuzugefügt,
werde er wieder frei sein und könne dann die gewünschte
Verbindung mit ihr — der Gräfin — eingehen. Gräfin
Ida stellte ihn: auch, um diese Ehe zu ermöglichen,
das Geld zum Ankäufe von Windenau zur Verfügung.
Dieser Plan gelang, ebenso bot sich die Möglichkeit,
van Son ans dem Wege zu räumen, ohne daß ein
Verdacht auf ihn siel, ferner jenen „Zufall" herbeizu-
führen, welcher seinen: Schwager das Leben kostete.
Was die Anschläge auf Hermann v. Kelling betreffe,
so habe Willeke darüber die Wahrheit gesprochen. Das-
felbe Gift, welches Hermann verderben sollte, brachte
er auch bei seiner Schwägerin Klotilde in Anwendung.
Er rechnete nun auch darauf, daß das ganze Kelling'sche
Erbe in seine Hände gelangen würde; dann wollte er
sich auch seiner Fran entledigen und die Verbindung
mit der Gräfin Roven eingehen. Vor drei Tagen nun
habe er erfahren, daß sie todt sei, und er zweifle nicht,
daß sie selbst Hand an sich gelegt habe. Er fluche diesem
Weibe, das ihn: zum Verhängniß geworden sei.
n n
Die schöne Gräfin Roven war in der That plötzlich
gestorben. Der gräfliche Hausarzt gab freilich als
Todesursache einen Herzschlag an; Ferrer hatte jedoch
Recht — sie hatte mit eigener Hand ihren: Leben ein
Ende gemacht. Dieselbe unbändige Leidenschaft, welche
der Chevalier für sie empfand, hatte Gräfin Ida für
van Son gehegt. Als sie erkannte, daß der geliebte
Mann für sie verloren sei, beherrschte nur noch ein
Gedanke ihren Geist: sich zu rächen. Sie wollte ihrer
tobten Liebe ein großartiges Todtenopfer bringen.
Der Chevalier war ihr gut genug als Werkzeug;
sich aber diesem Menschen hinzugeben, den sie verachtete,
hatte sie niemals ernstlich in: Sinne. Als die Hoff-
nung, er werde auf sie verzichten und sich mit den
materiellen Vortheilen begnügen, die ihn: das Ausster-
ben der Famlie Kelling dringen mußte, sich trügerisch
erwies, warf sie kurzweg das Leben von sich, welches
keinen Werth mehr für sie hatte. Sie hatte ihre Rache
befriedigt.
Der gerechten Strafe für seine Thaten entzog sich
Erdmann-Ferrer; er hatte das Gift, welches Klotilde
und Hermann aus dem Wege räumen sollte, bei sich
zu verbergen gewußt — eines Morgens fand man ihn
todt in seiner Zelle. Oskar, welcher persönlich dem
 
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