Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1895

DOI issue:
Heft 5
DOI article:
Gmelin, L.: Die Pflanze im Kunstgewerbe und Meurers Naturformenstudien
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.6756#0047

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
4-*

59 -4-

2TEan hat die Aufnahme des Pflanzenstudiums in
die Unterrichtsgegenstände der Uunstgewerbeschulen in eine
Linie stellen wollen mit dem Vorgehen mancher Aunst-
akademien, welche an stelle des Gypszeichnens nach der
Antike von vornherein das Ucodellzeichen gesetzt haben;
aber der Fall liegt hier doch etwas anders. Bei dem
Studium der Waler und Bildhauer handelt es sich fast
ausschließlich um ein möglichst treues Abbilden oder
Nachbilden der Natur, — beim Aunstgewerbe dagegen
sehr häufig um ein Umbilden der Natur. Zur Lösung
dieser zweifellos viel schwierigeren Aufgabe gehört schon
eine künstlerische Reife, welche nur dann von einem größeren
Bruchtheile der angehenden Kunsthandwerker erreicht werden
kann, wenn künstlerisches Denken schon von Zugend auf ge-
pflegt wird; davon sind wir aber leider sehr weit entfernt.

Nach kjans Muelich.

(vgl. Jahrgang Seite 73 ff)

Dem Streben nach intimerem Studium der Pflanzen-
formen ist auch das Seite ^ näher bezeichnte Werk Weurer's
entsprungen. Line gerechte Beurtheilung desselben muß vor
allen Dingen sich bemühen, den Grundzug in Weu-
rer's Bestrebungen zu erkennen und diese auf
ihre Berechtigung zu prüfen; bei Anerkennung der
letztern wird es dann unsere Aufgabe sein, erst den Zn-
halt des Werkes darzulegen und dann zur Beantwortung
der Frage zu schreiten, ob das erstrebte Ziel aufdem
cingeschlagenen Wege wirklich erreicht werden
kann, ob die etwa am Wege lauernden Gefahren durch
Kodifikationen umgangen werden können — oder ob der
Weg gar in die Irre führt.

Nach unsrer persönlichen Ueberzeugung beruht die viel-
fach verbreitete Meinung, als ob Weurer's Absichten im
wesentlichen auf das „Stilisiren" von Pflanzen hinausliefen,
auf einem Wißverständniß, hervorgerufen durch gewisse
schematische Darstellungen, welche für Stilisirungen
gehalten werden.') vielmehr betrachten wir die völlige
Durchtränkung des künstlerischen Denkens mit
den in der Natur, spe ziel! an den Pflanzenformen
beobachteten Gestaltungsgesetzen als das eigent-
liche Ziel des Weurer'fchen Naturformenstudi ums.
wohl zeigt das werk einzelne Theile, welche bei flüchtiger
Betrachtung dieses Ziel weniger deutlich erkennen lassen;
aber bei genauerem Zusehen wird man stets wieder den
jenem Ziel zustrebenden Pfad finden.

9 Lolchen Bestrebungen wie sie z. 8. schon Ruprich-Robert vor
nunmehr 30 Jahren in seiner üore ornementale verfolgt hat, steht
INeurcr fremd, wenn nicht feindlich gegenüber.

Das Zeichnen von Pflanzen in ihrer natürlichen Er-
scheinung, wie es der Waler im Bereich des Aunstgewerbes
braucht, ist eine Sache für sich; wer hiefür Anhaltspunkte
in dem Werk zu finden hofft, wird sich freilich enttäuscht
finden, denn damit befassen sich Weurer's Studien fast gar
nicht, ohne deßhalb das freie Naturstudium beschränken, ge-
schweige denn ersetzen zu wollen. Die Waler, wie der
Tapeten- und Stoffzeichner werden darum auch mit dem
Weurer'schen Werke wenig anzufangen wissen; sie werden
es zumeist gar nicht verstehen. Das Werk erstrebt eben das
Studium der Pflanzenform mehr im Sinne des Architekten
als des Walers oder Botanikers; was dasselbe an
Tafeln enthält, sind nicht „Vorlagen" im landläufigen Sinne,
sondern Typen, an welchen die gesetzmäßige Gestaltung des
pflanzlichen Organismus dargelegt und zugleich gezeigt wer-
den soll, in welcher Weise der Studierende sich mit den der
Pflanzenform zu Grunde liegenden Gesetzen vertraut inachen,
wie er in dem tektonischen Bau der Pflanze „die Bedeutung
der Formeil als Verkörperung ihrer Ideen" erkennen und
„Formen uild Gesetze der Pflanze den Bedingungen des
Kunstwerks anpaffen kann", — wie man aus den Pflanzen
theilen einerseits und den Geräthen andererseits die möglichen
oder vorhandeilen Ailalogien aufsucht, um daraus zu ent
nehmen, wo und wie man pflanzlichen Schinuck gewiffer-
maffen als „Gleichniß" zur Vergeistigung einzelner Theile
eines Geräthes anwenden kann.

Wan hat deni von Weurer vorgeschlagenen Studien
gang für das pflanzenzeichneil die Absicht zugeschrieben, hier-
mit das sonst übliche, die natürliche Erscheinung wieder-
gebende Naturzeichnen zu verdrängen; eine solche Anschau-
ung kann sich nur bei völligem Mißverstehen der Meurer'-
schen Grundideen eirtwickeln. Unserer Auffassung nach wollen
Meurer's Studien, welche vielleicht besser mit „Architek
tonik der Pflanzen" betitelt worden wären, nichts Anderes
fein, als ein Seitenstück zu öem naturalistischen Pflanzen
zeichnen, — sie wollen neben das Erfassen der malerischen
Erscheinung eine Beobachtungsweise setzen, welche auf die
Ergründung des architektonischen Baues der Pflanze
abzielt; man kann denselben deshalb ihre Existenzberechtigung
so wenig versagen, wie etwa einem Lehrbuch über Perspek
tive oder einem solchen über Anatomie. Daraus — wie
dieß geschehen ist — eine Gefahr für den Zeichenunter-
richt abzuleiten, oder gar zu prophezeien, durch solch strenge
Studien werde das künstlerische Empfinden ertödet, ist gleich-
werthig mit der Behauptung, der Landschaftsmaler könne
durch das Studium der Perspektive, der Figurist durch das
der Anatomie im künstlerischen Einpfinden beeinträchtigt
werden. Es wäre manchem Landschafter gut, wenn er
sich etwas mehr mit den Lehren der Perspektive vertraut
machte, damit sie sein „künstlerisches Empfinden" korrigire!
Umgekehrt ist uns nicht bekannt, daß Dürer's künstlerisches
Einpfinden durch seine anatomischen, in den „vier Büchern
von menschlicher Proportion" niedergelegten Studien ge-
litten hätte!

Warum sollte ein Pflanzenstudium in ähnlicher Art
nicht auch seine Berechtigung haben? Wodurch unterscheidet
sich ein solches Vorgehen von deni des Ethnographen, welcher
aus einer Anzahl Physiognomien einer Raffe den Typus
derselben feststellt, — oder eines Sprachforschers, der aus
einein Dutzend von Dialekten die Sprachstämme hervorsucht?
 
Annotationen