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Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1895

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Heft 2
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L. G.: Volkskunst, Hausfleiß und Hausindustrie
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https://doi.org/10.11588/diglit.6756#0026

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rSlkskSnst, MaüWiß und KMsindufiik.

nter diesem Titel hat Dr. Al. Riegl, der unfern Lesern
durch verschiedene Aufsätze aufs vortheilhafteste bekannt
ist, eine Studie veröffentlicht,*) deren Ziel hauptsächlich
darin besteht, die österreichische Regierung zu einer möglichst
baldigen aber gründlichen und wissenschaftlichen Festlegung der Reste
von Volkskunst zu veranlassen, jener Reste, die jetzt noch zahlreich gerade
in der österreichisch-ungarischen Monarchie anzutreffen sind, aber voraus-
sichtlich im Verlauf eines Menschenalters bis auf geringe Spuren von
der umsichgreifenden höheren Kultur aufgesogen werden. Obgleich auch
für einzelne wenige Gebiete Deutschlands — z. B. die Marschen —
eine ähnliche Mahnung am Platze wäre, so ist es doch nicht dieses
von Riegl erstrebte Ziel wissenschaftlicher wie künstlerischer Erforschung
und Sammlung, welches uns veranlaßt, auf diese Schrift näher ein-
zugehe», sondern vielmehr das lebendige Bild, das der Verfasser in

gediegener wissenschaftlicher
Meise von der kulturgeschicht-
lichen Entwickelung der Volks-
kunst vor unfern Augen ent-
stehen läßt.

25. Aus dem Reichstags-
haus.

(?) Eckparthie
im kjauptsitzungssaal.

Mas beim ersten Blick
in diese Schrift aufsällt, ist,
daß Riegl die wirthschaft-
lichen Verhältnisse als wesent-
liche Faktoren der ersten künst-
lerischen Aeußerungen, als
Volkskunst einseht. Bisher
hat die kunstgewerbliche Forschung darauf viel zu wenig Rücksicht ge-
nommen; sie hat viel zu wenig die wirthschaftliche» Ursachen und Trieb-
kräfte ausgesxürt, welche bei den Veränderungen in den Kunstleistungen
maßgebend waren. Man hatte geglaubt, lediglich mit einer Betrachtung
der künstlerischen Außenseiten des Kunstgewerbes durchzukommen; man
faßte all diese Wandlungen zu sehr von einem idealen Standpunkte
aus in's Auge und übersah ganz, wie häufig dieselben von wirth-
schaftlichen oder politischen Wandlungen ausgegangen sind. Dieses
Uebersehen der wirthschaftlichen Verhältnisse hat auch vielfach zu schiefen
Urtheilen über die kunstgewerbliche Leistungsfähigkeit gewisser Zeiten
und Völker im Vergleich mit denen der Gegenwart geführt; jede,, auch
die ursprünglichste Aeußerung im Bereich der dekorativen Kunst ist
nur denkbar bei dem Vorhandensein eines Ueberschuffes an wirth-
schaftlicher Leistungsfähigkeit. Je mehr Mittel nach Deckung der
nöthigsten Lebensbedürfnisse übrig bleiben, also je größer der Ueber-
schuß an wirthschaftlicher Leistungsfähigkeit ist, um so mehr kann für
künstlerische Ausstattung der uns umgebenden Dinge aufgewendet



*) Berlin, Georg Siemens, J89^-

werden. Ein bezeichnendes Beispiel dafür aus neuester Zeit liefert
UNS Nordamerika. In gewissen Kreisen hat sich daselbst ein ziemlicher
Luxus in kunstgewerblichen Dingen eingenistet, aber nicht etwa —
wie von gewisser Seite geschlossen wurde — weil die Amerikaner
mehr Geschick und verständniß dafür haben, sondern ans dem sehr
einfachen Grunde, weil ihr Ueberschuß an wirthschaftlicher Kraft —
oder modern gesagt: an Geld — ein sehr namhafter ist. Es wäre
natürlich ebenso thöricht, das Dasein einer Kunst ausschließlich auf
den Ueberschuß an „Geld" zurückzuführen; aber es unterliegt andrer-
seits auch keinem Zweifel, daß ohne einen solchen Ueberschuß die Kunst
und das Kunstgewerbe verkümmern müßten. Er gehört zum Gedeihen
derselben so nothwendig wie die Luft zum Leben; entzieht einer pstanze
die Luft, so muß sie zu Grunde gehen, mag sie noch so gesund sein
und mag der Boden, in dem sie wächst, noch so nahrhafte Bestandtheile
enthalten.

Schon nahe den Uranfängen der Lultnr, zu denen uns Riegl
in seiner Schrift zunächst hinführt, zeigt sich ein solcher Ueberschuß
an wirthschaftlicher Leistungsfähigkeit. Der Bausfleiß, d. h. die-
jenige Art menschlicher Güterproduktion, bei welcher Alles, wessen der
Mensch zur Lebensführung bedarf, von ihm selbst und seinen Familien-
genossen bereitet, Nichts von Andern eingetauscht oder gekauft wird,
gehört zu der untersten Stufe eines planmäßigen Wirthschaftens.
Diese Eigenproduktion hatte naturgemäß auf die Oualität der Erzeug-
nisse den besten Einfluß, da es ja im Interesse der Verfertiger lag,
die Geräthe rc. so brauchbar und dauerhaft als möglich, herzustellen,
um der Neuanfertigung derselben möglichst lange überhoben zu sein.
Da es nun erwiesen, daß das Schmuckbedürfniß eines der elemen-
tarsten Bedürfnisse des Menschen ist, so leuchtet ein, daß sich dasselbe
auch bald bei der Erzeugung von Gegenständen geltend machte, —
theils hinsichtlich der plastischen Gesammterscheinung, theils nur in
Bezug auf die Oberflächeuverzierung. Die Zeit und Arbeitskraft,
welche man nach verrichtnng des absolut Nothwendigen übrig hatte,
verwandte mau auf die Verschönerung der Geräthe, Kleider re., und
so bildete» sich allmählig in dem einzelnen Familicnverband eine
Anzahl Kunstsormen aus, die so lange keine wesentliche Veränderung
erlitten, als die Berührung mit anderen Familienverbänden mangelte;
denn als mächtigster kjebel für die Bervorbringung neuer Formen
gilt eben die Berührung von Fremdem mit Fremdem. Bei Erweiterung
des Familienverbandes zum Volke, werden bei der bekannten konser-
vativen Gesinnung aller Ackerbauer auch die traditionellen Kunstformen
allen Mitgliedern dieses Volkes geläufig geblieben sein und hier konnte
man dann von einer Volkskunst im eigentlichsten Sinne des Wortes
sprechen.

„Zwei Merkmale sind es hiernach, welche den Begriff der Volks-
kunst ursprünglich konstruiren: ;. Die einzelnen Formen, aus denen
sich dieselbe zusammensetzt, dürfen nicht bloß einer bestimmten Gesell-
schaftsklasse, etwa den Besitzenden, angehören, für welche Klassen-
theilnng innerhalb des kqausfleißes in seiner ursprünglichen Reinheit
gar kein Rauin wäre, sondern sie müssen allen Volksangehörigen ge-
meinsam, d. h. von allen gekannt und verstanden, und von allen
praktisch geübt sein. 2. Die Formen einer Volkskunst müssen im Wege
der Tradition, der fortwährenden unabänderlichen Uebung hergebracht
sein. Die Tradition ist die richtige und unentbehrliche
Lebenslust für die Volkskunst." Angesichts gewisser Bestreb-
ungen, mit aller Gewalt eine sogenannte Volkskunst auf deutschem
Boden ins Leben zu rufen, ist dieser letzte Satz von besonderer Wich-
tigkeit; bei unseren heutigen lebhaften verkehrsoerhältnissen, die selbst
die verlorensten Gebirgswinkel in den Strudel hereinzuziehen drohen,
ist eine Erhaltung der Tradition ein Ding der Unmöglichkeit, wir
werden Veranlassung nehmen, am Schluß dieser Besprechung noch
einmal darauf zurück zu kommen.

Der schöne patriarchalische Zustand, in welchem eine ursprüng-
liche Volkskunst gedeihen konnte, mußte ein Ende nehmen, sobald zwei
unabhängige Familienverbände aneinander geriethen und der eine den
andern unterjochte, d. h. dessen Angehörige zu Sklaven machte, was
war natürlicher, als daß nun den Sklaven alle jene Arbeiten über-
tragen wurden, welche den vcrren am unbequemsten waren? Und
mußte nicht schon hierdurch die bisherige Volkskunst des herrschenden

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