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Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbe-Vereins zu München: Monatshefte für d. gesammte dekorative Kunst — 1895

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Heft 12
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Hagen, L.: Zur Entwicklungsgeschichte der Klöppelspitze
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https://doi.org/10.11588/diglit.6756#0108

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Frau Frauberger stellt sich in ihrer Grundanschauung
über die Entstehung der Spitzentechniken aus die Seite der
Semperianer, die jedes textile Ornament aus der Noth-
wendigkeit ableiten, die Endfäden des Gewebes durch einen
Sauin oder eine Franse zu befestigen. Die Nadelspitze ent-
wickelt sich nach dieser
Theorie aus dein hohl-
saum und Durchbruch,
die Alöppelspitze aus der
Franse. Nun wird es nie-
mand einfallen, zu bestrei
ten. daß mechanische Ein-
flüsse dieser Art beiin Zustandekommen der Spitze thätig gewesen
sein können — sogar thätig gewesen sein müssen. Ebenso
wenig aber kann diese rein iiiechanische Erklärung als eine
absolut befriedigende angesehen werden. Nkan wird viel-
inehr neben den technischen die aesthetischen Rücksichten er-
wägen müssen, die auf die Entstehung der Spitze gestaltend
einwirkten und neben diesen aesthetischen Momenten dürfen
wieder gewisse iiationale ■— wenn man will Rasseneigen
thümlichkeiten — nicht unberücksichtigt gelassen werden.

Wäre die Ableitung der Nadelspitze vom Saum, der
Alöppelspitze von der Franse so einfach und konsequent, wie
sie aus den ersten Blick erscheint, so müßten ohne Zweifel
die Orientalen, diese feinsinnigsten Meister aller textilen
Aünste, die Spitze erfunden und zu voller höhe entwickelt
haben. Es ist aber allgemein bekannt, daß das Morgen
land beim einfachen Durchbruch uud bei einer Anüpfspitze
von sehr dürftigen: ornamentalen Werthe stehen geblieben
ist. Man kann ohne alle Uebertreibung behaupten, daß
das Morgenland mit seinen: ganzen fabelhaften Reichthum
an textilen Aünsten einzig in den seinen arabischen Flach-
stickereien der Aorandecken etwas geliefert hat, was in Be-
zug auf Stilreinheit — Stil in dem Sinne, wie er aus dem
Geiste der Technik herauswächst — einer punto tagliato oder
Reticellaspitze der Hochrenaissance ebenbürtig an die Seite ge-
stellt werden kann. Das kräftigere Rückgrat des Europäers,
seine höhere Auffassung von Freiheit und Menschenwürde
und die damit in Verbindung stehende starke Betonung der
zeichnerischen Seite des Ornamentes haben ganz entschieden
gestaltend auf die Entstehung der Spitze eingewirkt, und zwar
ebenso sehr bei der Nadel- wie bei der Alöppelspitze.

Die Entstehung der Alöppelspitze muß ganz besonders
in enger Anlehnung an die Eigenart des europäischen Aunst
schaffens beurtheilt werden. Die aesthetischen Gesichtspunkte,

(57. So«. Genueser Spitze im Lharakter der früheren Meister.

welche sie beeinflußten, liegen in der Eigenart des europä-
ischen Aostüms. Der große bestimmende Zug in der Ge-
schichte des europäischen Aostüms — Modelhorheiten ab
gerechnet — bleibt das Streben nach Anschluß des Ge
wandes an die Aörperform. Zur Orient ist dies Streben
unbekannt; seine Aonsequenzen für die künstlerische Behand-
lung des textilen Ornamentes werden daher nicht gezogen.

X_

Ze mehr sich die europäische Tracht von byzantinischen
Einflüssen frei machte, desto größer wurde die Nothwendig
keit, ein nach außen stark betontes Saumornament zu schaffen.
Wohl besteht eine solche bereits am byzantinischen Gewände,
allein sie trägt hier mehr den Lharakter der schniückenden
Zuthat. Das mittelalterliche Gewand mit seiner Vorliebe
für „ameisen"-schlanke Zungsrauen macht eine Saum-
verzierung, die den Fall des Gewandes nach unten erschwert,
zur aesthetischen Nothwendigkeit, weil der Faltenwurf des
Rockes von oben her nicht motivirt ist. Es bethätigt sich
hier das Gefühl für Symmetrie im übertragenen Sinne,
welchem Semper den geistigen Gegenbegriff des „Gleich
gewichts" beigesellt hat. Das aesthetische Empfinden ver-
langt, daß das natürliche Gesetz, welches hier zu Grunde
liegt, äußerlich zum Ausdruck komme. Gleichzeitig geht die
Tendenz der christlichen Aultur in demokratischer Richtung
> vor: sie läßt stets eine größere Menge materieller und ideeller
Güter einer verhältnißmäßig größeren Anzahl von Menschen
zugänglich werden. Daniit wird zugleicb die Nachfrage nach
! billigen und schnellhergestellten Verzierungen gesteigert.

Die nachweislich älteste Verzierung des Gewandsaunies
ist die gewirkte Borte, die ja schon an koptischen Geweben
vorkommt. Wolfram von Eschenbach erwähnt iin Par
zival u. A. eine Mütze, die mit einen: sarazenischen gold
durchwirkten Bande verziert ist. Ze mehr nun durch das

(38. Alöppelspitze,

im Charakter eines französischen Modellbuches, um J550.

Aufhören der Areuzzüge der direkte Verkehr niit dem Orient
einging und der venetianische Zwischenhandel die Preise er
höhte, desto eifriger suchte :nan jedenfalls nach gleichwerth
igem Ersatz für die morgenländischen Borten. Sehr früh
ist denn auch die Bortenwirkerei in Europa in Aufnahnre
gekommen. tAbb. Iö6.) Die manessische Handschrift stellt eine
Dame an dieser Arbeit dar. Der Gedanke, an Goldfaden und
Goldschnur zu sparen, mußte nahe liegen, außerdem suchte
inan natürlich nach neuen Mustern und neuen Verzierungs
weisen. So mag der llebergang von gewirkten und ge-
stickten Goldborten zu denjenigen gesunden worden sein, die
aus einfachen Verschlingungen von Goldschnur bestehen, wie
sie an den Gewändern bei Sandro Botticelli, palnrezzano
u. A. Vorkommen. Für das Aufkommen der Spitze als
hals und Aermelverzierung muß man als aesthetisches
Monient noch das Bedürfniß nach mildernden Uebergangs
linien zwischen den Fleischtönen der haut und der Farbe
des Aleides in Anschlag bringen; einmal eignete sich hierzu
die durchbrochene Spitze besonders gut, dann auch mochten
die früher üblichen weichen Gazekrausen im Gebrauch zien:
lich theüer werden, da sie morgenländischeu Ursprunges ge-
wesen sein dürsten und jedenfalls nicht lange hielten. Der
aufmerksame Beobachter kann schon an den Gen(älden der
frühen italienischen Meister verfolgen, wie sich das Gefühl
für den ornamentalen Lharakter der Schnur als Gewand
Verzierung allmählich entwickelt und schließlich n:it vollem
Bewußtsein angewendet wird. Alarer noch tritt das Ge-
fühl für dies Prinzip auf den frühen holländischen und

(36. Primitive geklöppelte Goldspitze.

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