Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 8.1916
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https://doi.org/10.11588/diglit.26378#0076
DOI issue:
Heft 3/4
DOI article:Gold, Alfred: Über Handzeichungen von Max Liebermann
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ÜBER HANDZEICHNUNGEN VON MAX LIEBERMANN
Abb. 3 Studie zum „Attmännerhaus" (1880). Konturfkizze aus der Münchner Zeit.
Motiv zukommU; wie um jedes diefer großen Motive, zumal in dep erften Jahrzehnten,
um die „Gänferupferinnen" (mit denen er [ich wie mit einem neuen blitzartigen Funken
von der Schultrockenheit freimacht) oder das „Altmännerhaus" oder die „Neßflickerin-
nen" oder den „Schweinemarkt" [ich eine überreiche Fülle von neuen Hoffnungen, von
inneren Wandlungen und von Experimenten zufammenfchließt. Man ift faft noch er-
ftaunter, zu fehen, wie fich das auch im zeichnerifchen Oeuvre abfpiegelt.
Um die großen Motivkreife gruppieren fich Liebermanns Zeichnungen. Nach ihnen
kann man fie zum größten Teil auseinanderhalten, nach ihnen auch aufreihen, und
was nun kunftkritifch dabei das wichtige ift: mit diefen wechselnden Motiven ftehen
die Zeichnungen in mehr als bloß dem zufälligen Zufammenhang einer Skizze und
eines Bildes, die etwas Ähnliches darftellen. Skizze und Bild kämpfen um diefelbe
Nuance. Die Vifion des Bildes braucht an irgendeiner Stelle eine Kopfwendung oder
eine Körpergefte oder irgendeine Einzelheit, die fich auf das allerfchärffte verwirk-
lichen muß. Nun befruchtet diefe Einzelheit aus der Vifion den Zeichner in Lieber-
mann, nun wird das Teilmotiv an fich zu einem abfolut und allein herrfchenden Stück
„Natur", und die Überfchneidung einer Linie oder eine kleine Verkürzung oder eine
unbefchreiblich individuelle Biegung wird genau fo viel — und eigentlich noch mehr —
als für den Schuizeichner ein ganzer Akt oder eine Landfchaft in mehreren Profpekten.
So entfcheidend im tieferen organifchen Sinne ift das Motiv für Liebermann.
Man fehe darauf die Studien zur „Kleinkinderfchule" an, den „Konfervenmacherinnen",
den „Ktöpplerinnen", zu den „Dorfftraßen", zur „Flachsfcheuer" ufw. bis zu den
Szenen aus dem Amfterdamer Judenviertel. Oft find die Zeichnungen nach einer ganz
anderen Seite fortgeführt als die damit verwandten Gemälde, und doch verrät ein Motiv-
* S. 157.
60
Abb. 3 Studie zum „Attmännerhaus" (1880). Konturfkizze aus der Münchner Zeit.
Motiv zukommU; wie um jedes diefer großen Motive, zumal in dep erften Jahrzehnten,
um die „Gänferupferinnen" (mit denen er [ich wie mit einem neuen blitzartigen Funken
von der Schultrockenheit freimacht) oder das „Altmännerhaus" oder die „Neßflickerin-
nen" oder den „Schweinemarkt" [ich eine überreiche Fülle von neuen Hoffnungen, von
inneren Wandlungen und von Experimenten zufammenfchließt. Man ift faft noch er-
ftaunter, zu fehen, wie fich das auch im zeichnerifchen Oeuvre abfpiegelt.
Um die großen Motivkreife gruppieren fich Liebermanns Zeichnungen. Nach ihnen
kann man fie zum größten Teil auseinanderhalten, nach ihnen auch aufreihen, und
was nun kunftkritifch dabei das wichtige ift: mit diefen wechselnden Motiven ftehen
die Zeichnungen in mehr als bloß dem zufälligen Zufammenhang einer Skizze und
eines Bildes, die etwas Ähnliches darftellen. Skizze und Bild kämpfen um diefelbe
Nuance. Die Vifion des Bildes braucht an irgendeiner Stelle eine Kopfwendung oder
eine Körpergefte oder irgendeine Einzelheit, die fich auf das allerfchärffte verwirk-
lichen muß. Nun befruchtet diefe Einzelheit aus der Vifion den Zeichner in Lieber-
mann, nun wird das Teilmotiv an fich zu einem abfolut und allein herrfchenden Stück
„Natur", und die Überfchneidung einer Linie oder eine kleine Verkürzung oder eine
unbefchreiblich individuelle Biegung wird genau fo viel — und eigentlich noch mehr —
als für den Schuizeichner ein ganzer Akt oder eine Landfchaft in mehreren Profpekten.
So entfcheidend im tieferen organifchen Sinne ift das Motiv für Liebermann.
Man fehe darauf die Studien zur „Kleinkinderfchule" an, den „Konfervenmacherinnen",
den „Ktöpplerinnen", zu den „Dorfftraßen", zur „Flachsfcheuer" ufw. bis zu den
Szenen aus dem Amfterdamer Judenviertel. Oft find die Zeichnungen nach einer ganz
anderen Seite fortgeführt als die damit verwandten Gemälde, und doch verrät ein Motiv-
* S. 157.
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