ÜBER HANDZEICHNUNGEN VON MAX LIEBERMANN
Bäuerinnen zumeist, in fchlappen Gewän-
dern, mit hängenden Geflehtem, derben
Händen, überfeßt er nicht nur wahr und fo-
gar vollendet richtig, fondern auch fo frifch,
fo unzerlegt und unermüdet, auf das
Papier, wie fonft wohl niemals „Modelle"
gezeichnet worden find. (Rembrandtfche
Zeichnungen haben daneben vielleicht nur
noch den ftärkeren Reiz träumerifcher Elegie
voraus.) Die mageren Gliedmaßen unter
den Gewändern, den Anfaß eines Armes
an der Schulter, alle bewegte und „ange-
wendete" Anatomie zeichnet er unnach-
ahmlich frei und großartig. Ganz fpät,
noch nach 1900, tauchen Studien diefes
Inhalts auf, die alles Gelernte zufammen-
faffen. Damit verwandt find die Tier-
ftudien. Ziegen, Hunde, Schafe werden,
von den achtziger Jahren an, mit unüber-
trefflicher wißiger Kürze fo gezeichnet, daß
eine Anekdote, die Haneke über die ver-
fpätete Erkenntnis diefer Blätter erzählt,
fehr glaubhaft wirktü Auch die Silhouet-
ten galoppierender Pferde, die berühmten
„Pferde am Strand", gehören zum Teil dazu. Aber unter diefen Pferdefkizzen find
auch fchon die etwas gezwungeneren anatomifchen Darftellungen, und die zeigen die
Kehrfeite der Medaille.
Die Anatomie im rein akademifchen Sinne, der Akt, der Studienkopf, auch das
Biidnis, find Liebermann nicht von Anfang an gefügig. Sie widerftehen ihm fogar
lange. Einen Akt durchzeichnen, ein Bildnis ausführen, fcheint feine Sache nicht. Es
iß, als ob ihn da etwas befangen machte. Die Nähe der Akademie verfcheucht
ihn. Seine frühen Aktftudien haben etwas, als ob in ihnen wieder Kleiderfalten
das Nackte verhüllten. Schon fagte man, daß ihm diefes Thema verfchloffen bliebet
Die „Badenden Knaben" find noch ungefähre Hilfsftudien, Bewegungsträger, Licht-
fänger, dann erft, nach längeren Jahren, kommt eine neue Anregung über ihn,
wieder durch ein Motiv, durch die Vifion eines Bildes „Simfon und Dalila". Zu
diefem Bild zeichnet er die erften weiblichen Akte großen Stils, auch wieder ganz
in Bewegung, ganz auf Rhythmus, aber nun mit ganz gefchultem und ftraffem, un-
anfechtbarem Kontur. So fpät erft (1902) erobert er diefes Gebiet, und wieder zehn
Jahre fpäter kommt er noch einmal darauf zurück. Ähnlich befiegt er — bekannt ift
die Anregung dazu durch Lichtwarks Bildnisaufträge für die Hamburger Kunfthalle —
die Kühle, die er urfprünglich dem Bildnis entgegenbringt. Sehr temperamentvolle
und freudige Bildnisftudien ohne Auftrag, in der Familie, nach feiner Gattin und der
heranwachfenden Tochter, hatte er immer fchon gezeichnet. Aber ein akademifches
' S. 290.
- Haneke a. a. O., S. 109.
65
Bäuerinnen zumeist, in fchlappen Gewän-
dern, mit hängenden Geflehtem, derben
Händen, überfeßt er nicht nur wahr und fo-
gar vollendet richtig, fondern auch fo frifch,
fo unzerlegt und unermüdet, auf das
Papier, wie fonft wohl niemals „Modelle"
gezeichnet worden find. (Rembrandtfche
Zeichnungen haben daneben vielleicht nur
noch den ftärkeren Reiz träumerifcher Elegie
voraus.) Die mageren Gliedmaßen unter
den Gewändern, den Anfaß eines Armes
an der Schulter, alle bewegte und „ange-
wendete" Anatomie zeichnet er unnach-
ahmlich frei und großartig. Ganz fpät,
noch nach 1900, tauchen Studien diefes
Inhalts auf, die alles Gelernte zufammen-
faffen. Damit verwandt find die Tier-
ftudien. Ziegen, Hunde, Schafe werden,
von den achtziger Jahren an, mit unüber-
trefflicher wißiger Kürze fo gezeichnet, daß
eine Anekdote, die Haneke über die ver-
fpätete Erkenntnis diefer Blätter erzählt,
fehr glaubhaft wirktü Auch die Silhouet-
ten galoppierender Pferde, die berühmten
„Pferde am Strand", gehören zum Teil dazu. Aber unter diefen Pferdefkizzen find
auch fchon die etwas gezwungeneren anatomifchen Darftellungen, und die zeigen die
Kehrfeite der Medaille.
Die Anatomie im rein akademifchen Sinne, der Akt, der Studienkopf, auch das
Biidnis, find Liebermann nicht von Anfang an gefügig. Sie widerftehen ihm fogar
lange. Einen Akt durchzeichnen, ein Bildnis ausführen, fcheint feine Sache nicht. Es
iß, als ob ihn da etwas befangen machte. Die Nähe der Akademie verfcheucht
ihn. Seine frühen Aktftudien haben etwas, als ob in ihnen wieder Kleiderfalten
das Nackte verhüllten. Schon fagte man, daß ihm diefes Thema verfchloffen bliebet
Die „Badenden Knaben" find noch ungefähre Hilfsftudien, Bewegungsträger, Licht-
fänger, dann erft, nach längeren Jahren, kommt eine neue Anregung über ihn,
wieder durch ein Motiv, durch die Vifion eines Bildes „Simfon und Dalila". Zu
diefem Bild zeichnet er die erften weiblichen Akte großen Stils, auch wieder ganz
in Bewegung, ganz auf Rhythmus, aber nun mit ganz gefchultem und ftraffem, un-
anfechtbarem Kontur. So fpät erft (1902) erobert er diefes Gebiet, und wieder zehn
Jahre fpäter kommt er noch einmal darauf zurück. Ähnlich befiegt er — bekannt ift
die Anregung dazu durch Lichtwarks Bildnisaufträge für die Hamburger Kunfthalle —
die Kühle, die er urfprünglich dem Bildnis entgegenbringt. Sehr temperamentvolle
und freudige Bildnisftudien ohne Auftrag, in der Familie, nach feiner Gattin und der
heranwachfenden Tochter, hatte er immer fchon gezeichnet. Aber ein akademifches
' S. 290.
- Haneke a. a. O., S. 109.
65