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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 19 (1. Juliheft 1917)
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Müller-Freienfels, Richard: Deutsche Eigenart
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0019

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arl. Die Phantasie des Deutschen ist qualitativ anders als die des
Griechen oder des Italieners. Phantasielos sind diese ihrerseits keines-
wegs, crber ihre Phantasie bleibt stets im Sinnhaften verwurzelt, sie ver-
liert nie den Zusammenhang mit der Natur, von der sie ausging. Der
Deutsche ist weit weniger sinnhaft. Er fühlt sich wohl in ganz freier, ab«
strakter Schöpfung von Gebilden, die sich weit von der Natur entfernen.
Die deutsche Phantasie entfaltet sich am reinsten im kühnen Formenspiel
der tzoch- und Spätgotik, im Variations- und Stimmengewebe poly--
phoner Musik, in der „reinen" Lyrik, in der spekulativen Philosophie.
Lrst wenn man die deutsche Phantasie als abstrakter, unrealistischer, anti-
naturalistischer kennzeichnet, als es die der klassischen Völker ist, erst
dann — nicht durch bloße Quantität — sagt man ein Vestimmtes aus
über sie. ^

Oetzthin das „Gemüt"! Nach Meinung mancher Leute hat der Deutsche
^dies im Monopol. Was aber heißt „Gemüt"? Es deutet auf ein wei-
ches, inniges Gefühlsleben. Indes, auch hier liegt eine Verwechslung
des „Deutschen^ mit dem „Volkstümlichen" vor. Denn einerseits offen-
baren die Volkslieder der Russen, Tschechen, Franzosen, ja fast aller Völker
ebenfalls „Gemüt", anderseits tritt bei den führenden Geistern Deutsch-
lands das Gemüt im oben umschriebenen Sinne keineswegs besonders her-
vor. Wenn eine sentimentale Legendenbildung bei einigen Lieblingen,
wie bei Luther oder dem „alten Fritz" oder Schiller, „gemütliche" Züge
überstark betont, so verfälscht sie. Kaum einer der wahrhaft großen Deut-
schen hat sich in besonderem Maße weichen, verträumten Stimmungen
überlassen. Wohl aber läßt sich ein andres Gemeinsames aufweisen. Im
Gegensatz zu den meisten Südländern überwiegt ein ernster, ja düsterer
Grundzug beim Deutschen. Aber während andere, hierin ähnlich ver«
anlagte Völker, wie die Russen, sich dem entsagend unterwerfen, kenn-
zeichnet den Deutschen ein Ankämpfen gegen jene Grundstimmung, kraft
dessen sie gebrochen, ja ins Gegenteil verkehrt wird. So sieht der Deutsche
die Welt mit dem Gefühl des „Erhabenen" an oder auch mit überlegenem
tzumor. Derartige Stimmungen, nicht die zerfließende Träumerei, sind
die Eigenschaften des starken deutschen Gefühlslebens.

H>ielleicht wird man das zugeben und doch darauf hinweisen, daß ge-
^rade die stärksten Deutschen um nichts so sehr sich gemüht hätten als
um Aberwindung jener Eigenart. Man wird an Dürer, an Goethe, an
Nietzsche erinnern, die sich entgegen ihrer angeborenen Begabung be-
mühten, zur Klarheit, zur organischen Einfachheit und lichten tzeiterkeit
der klassischen Völker zu kommen. Ilnd hat damit recht. Dieser Dualis-
mus steckt im Deutschen. Er gehört zu ihm und braucht weder gepriesen
noch getadelt zu werden; man muß ihn als notwendig begreifen. Er ist
notwendig, nicht weil die klassische Art die ältere oder an sich die wert-
vollere wäre, aber weil sie sich besser einfügt ins Irdische, über das der
Deutsche gerade vielfach hinausstrebt. Gewiß, die klassische Art gewährt

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