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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

DOI Heft:
Heft 19 (1. Juliheft 1917)
DOI Artikel:
Hofmann, Walter: Buch, Volk und Bücherei
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0021

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rnarischen Bühne wurde in ihrer klassischen Zeit viel mehr von Iffland
und Kotzebue als von Schiller und Goethe beherrscht.

Aber die „grotze Zeit" der Pseudo-Literatur, die von Lieferanten für
die Bedürfnisse des Publikums hergestellt wird, sind doch erst das neun»
zehnte und zwanzigste Iahrhundert. Immer mehr, für ständig wachsende
Kreise, treten im neunzehnten Iahrhundert die bildenden Lebensmächte
zurück, die in früheren, gebundeneren Iahrhunderten auch dem Durch«
schnittsmenschen Inhalt und tzalt gaben. Die Religion verliert zuerst im
Bürgertum, dann in den großen Massen der Arbeiterschaft ihre führende
Stelle, die Arbeit aber, die wichtigste Angelegenheit der Diesseitswelt, ver-
ändert je länger je mehr ihren Charakter, — sie spezialisiert sich, die Ge-
samtlebensführung ist von ihr nicht mehr durchdrungen, für immer größere
Massen wird es unmöglich, in der Arbeit selbst, im Arbeitserlebnis Freude
und Besriedigung zu finden. Ie schärfer aber die Arbeit angespannt und
je mehr sie dabei entseelt wird, um so größere Bedeutung erlangt das,
was durch die Arbeit erkauft werden kann: Muße und Genuß. Der Ge»
nuß tritt als etwas mit ihr Unvereinbares neben die Arbeit, und die
Notwendigkeit der Beschaffung von Genußmitteln entsteht. In dem Augen-
blicke aber, wo der Durchschnittsmensch von den überindividuellen Lebens-
mächten der Religion, der Arbeit und schließlich auch der Natur und der
Familie fallen gelassen wird, kann das gesuchte und ersehnte Genußmittel
nur der Ausdruck seiner eigenen geistigen Unzulänglichkeit und seiner
seelischen Dürftigkeit sein. So entsteht das, was wir in allen seinen
Schattierungen als „Unterhaltungsliteratur" kennen, und da deren Vor-
aussetzungen immer allgemeiner werden, so kommt es, daß diese Rnter-
haltungsliteratur seit den Tagen der Kotzebue und Clauren bis zu Gregor
Samarow und Iodokus Temme, bis zur Marlitt und Eschstruth und
schließlich bis zur Unterhaltungsliteratur der kapitalistischen Großproduk-
tion der Gegenwart in immer breiteren Fluten anschwillt. Da die Voraus-
setzungen der Rnterhaltungsliteratur aber nicht nur allgemeiner, sondern
in ihrem spezifischen Charakter immer entschiedener werden, da die mate-
rialistische Lebensauffassung sich immer unzweideutiger durchsetzt, die Ar-
beit immer radikaler mechanisiert wird, die Industrie und die moderne
Großstadt mit elektrischem Licht und Asphalt die Lebensverhältnisse immer
künstlicher gestalten, da die Familie äußerlich und innerlich immer stärker
in Auflösung begriffen ist, da die ursprünglichen Quellen des Lebens, seeli-
scher Kraft und Erbauung immer mehr verschüttet werden, da die An-
spannung der Nerven immer stärker wird, so muß auch der Genuß in den
wenigen Mußestunden sich immer mehr dieser Seelendürftigkeit, der Sin-
nen- und Nervengereiztheit anpassen. So muß nun die Unterhaltungs-
literatur mit dem Lunapark, mit dem Schauder- und Rührkino, mit Bier-
und Kaffeehausmusik, mit dem Mordprozeß und dem Tingeltangel in
Konkurrenz treten, und sie kann diese Konkurrenz gar nicht aushalten,
wenn nicht auch sie sich immer mehr nach der Seite des Albernen, des
Oberflächlichen und Sensationellen steigert.

Alle diese Produktionen stehen in einem bitter-schmerzlichen Wider-
spruch zu der Würde. Kraft und Schönheit, die sowohl unsere alte Volks-
kultur wie auch unser echtes Schrifttum der neueren Zeit atmen. Des
Knaben Wunderhorn, das deutsche Weihnachtslied hier, der moderne
Gassenhauer da: dieser zehrende und schmerzende Widerspruch bringt
immer wieder Versuche hervor, den ganzen verpöbelten Anterhaltungs-

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