Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

DOI issue:
Heft 19 (1. Juliheft 1917)
DOI article:
Vom Heute fürs Morgen
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0056

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
der öffentlrchen Meinung.
Die beiden großen MiLtel der Ge«
setzgebung, die der Strafe und Be-
lohnung, stehen auch der öffentlichen
Meinung zu Gebote; das Mittel der
Strafe sollte in diesen Zeiten mehr
oder zielbewußter gehandhabt wer-
den. — Es sagte mir einmal einer im
Felde: „Wenn ich fallen sollte, so
läßt es mich ziemlich gleichgültig,
daß mein Bamen einmal auf Ge«
denktafeln usw. wird verewigt wer-
den. Dagegen würde es mich sehr
freuen, wenn man Schandsäu«
len errichtete, und auf denen die
Namen all derer vor dem Ver-
gessenwerden bewahrte, die sich in
diesem Kriege schmählich benom-
men haben."

In der Tat wäre dies ein Mittel,
das Gedächtnis dieser Zeiten rein
und groß zu erhalten. Die von
der Mitwelt selbst ausgestoßen wur«
den, haben keinen Anspruch darauf,
zu der schweigenden, namenlosen
Masse, die doch die eigentliche tzel-
din dieser Zeiten ist, gerechnet zu
werden; ihr Gedächtnis ist ihre
Strafe. Line solche Schandsäule
aber kann das Gedächtnis der öf-
fentlichen Meinung werden, na-
mentlich wenn dies Gedächtnis diese
(Lrinnerungen als Motive auf-
bewahrt und, durch sie gemahnt,
den Verbrecher, solange als Men-
schengedenken eben zu reichen Pflegt,
sein Verbrechen fühlen läßt.

Mit den allergrößten Buchstaben
gehört zunächst an die Schandsäule
ein Vorkommnis, so ungeheuerlich,
daß daneben selbst der Kriegswucher
als eine verhältnismäßige tzarm-
losigkeit erscheint, und leider an-
scheinend gar nicht selten. Bäm-
lich: Mädchen verlassen ihren Ver-
lobten, Frauen lassen sich von ihrem
Mann aus dem Grund scheiden,
weil dieser im Dienste des Vater-
landes durch Verwundungen, Ver-
brennungen usw. im Gesichte ent-
stellt wurde! Ia sogar, wenn er er-

blindeteN Ls fehlt der Sprache an
Mitteln, dieses Äbermaß ordinärster
Dirnengesinnung auch nur an-
nähernd zu kennzeichnen, der öf-
fentlichen Meinung aber keines-
wegs an Möglichkeiten, diese Roheit,
wenn auch nicht angemessen, so
doch empfindlich zu strafen. Ein sol«
ches Geschöpf muß ausgestoßen wer«
den aus der Gesellschaft aller or-
dentlichen Menschen. — Neben dies
monströse Vergehen stelle ich ein
feineres, das aber auch keines-
wegs harmlos ist: den Fall der
Leute, die den Krieg aus dem
Grunde ignorieren, weil er ihnen
auf die Berven fällt. Der „Berner
Bund" schilderte neulich recht an-
schaulich ein Ehepaar, das überein-
gekommen war, keine Zeitung zu
lesen, mit keinem Menschen zu
sprechen, weil selbstverständlich jede
geistige Fühlung, die man jetzt
irgendwie nimmt, einen auch mit
Not und Iammer des Krieges in
Berührung bringen kann. Line
solche Empfindlichkeit ist tzochverrat;
denn was sollen diejenigen, die jetzt
Gut, Gesundheit, Leben für das
Vaterland hingeben, von dem Ziele
denken, für das sie dies alles hin-
geben, wenn solche Gesinnung häu-
figer ist?

Was ist nun das Gemein-
sume beider Fälle, beziehungsweise
das in beiden Verwerfliche? Er-
sichtlich der Anspruch des Indi-
viduums, für sich bleiben zu wollen,
andere zwar für sich kämpfen und
leiden zu lasfen, seinerseits aber
seine Subjektivität uneingeschränkt
behaupten zu wollen. Sieht man
näher zu, so ist dies die Wurzel
alles gesellschaftlichen Unrechts über-
haupt. Der Mensch soll leben, und
lebt wahrhaft überhaupt nur in
einem anderen Wesen, das größer
ist, als er selbst, also zunächst im
Staate. Diese Erkenntnis von der
Anwahrhaftigkeit des bloß indivi-
duellen Lebens ist zwar seit Aristo-
 
Annotationen