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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 20 (2. Juliheft 1917)
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Heiß, Hanns: Frau von Staël: hundert Jahre nach ihrem Tod
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0085

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Protestantin, von der Mutter her Enkelin eines Schweizer Pfarrers, vom
Vater her Enkelin eines Genfer Professors, desfen Familie aus Irland
stammte und der in die Schweiz aus Pommern eingewandert war, wo
sein Vater und sein Großvater gewirkt hatten. In der sranzösischen Pa-
Lriotin steckte etwas Anfranzösisches, sie konnte (wie Goethe sie einmal
anredete) als „Halblandsmännin" gelten.

Trotzdenr waren genug Schwierigkeiten zu überwinden, die sie nicht
immer überwand. Sie war im Bann französischen Geschmacks und Den-
kens aufgewachsen. Sie wollte ausfragen und dabei widerstrebte ihrem
Ouecksilbertemperament nichts so sehr als Geduld und passive tzingabe.
Sie drang bei den Deutschen ein, ohne sich zu kümmern, ob sie ihr Tage-
werk störte, ergriff Besitz von ihnen mit der Rücksichtslosigkeit einer vor-
nehmen, an unbedingte Artigkeit gewöhnten Dame, die nicht so leicht ab-
zuwimmeln war wie ein anderer ungebetener Gast. Goethe, der ihr aus-
wich, wo es ging, Schiller, dem nach ihrem Abschied zumute war, als
hätte er eine schwere Krankheit hinter sich, Fichte, den sie bat, ihr in fünf-
zehn Minuten sein System zu erklären und den sie nach zehn dankend unter-
brach, um das Fichtesche „Ich" mit dem Freiherrn von Münchhausen zu
vergleicheN) wie er sich am eigenen Armel packt und über den Fluß hinüber-
zieht — alle, mit.denen sie in Berührung kam, waren verblüfft und vor
den Kopf geschlagen, betäubt von ihrer Zungenfertigkeit, gegen die sie
auch nicht hätten ankämpfen können, wenn sie gewandter französisch ge-
sprochen hätten. Kein Wunder, daß der Besuch dieser unerhörten Frau
nur sehr gemischte Freude erweckte und daß die meisten ihr nicht eher
gerecht zu werden vermochten, als bis sie sich aufatmend von ihrer Gegen-
wart erholt hatten.

(807 reiste Frau von Stael von neuem nach Deutschland, nach München,
Wien, auch nach Weimar. (8(0 ließ sie in Frankreich ihr Buch drucken.
Es wurde konfisziert, noch ehe die Zensur ein Arteil gefällt hatte, ver-
boten und eingestampft. Mit Mühe rettete sie die tzandschrift. (8(3 end-
lich erschien es in London, und in wenigen Tagen war die Auflage ver-
kaust. Selten hat ein Buch eine tiefer verzweigte Wirkung ausgeübt, selten
vor allem ist ein Buch so lange, Iahrzehnte hindurch, so aktuell und
umstritten geblieben. Die Franzosen, die ihm heute wie nach Sedan vor-
werfen, es habe verhängnisvolle Irrtümer verbreitet, sind nicht ganz im
Unrecht. Die Legende vom deutschen Volk als einem idyllischen, erden-
fernen, ewig harmlosen, zu politischem und gar kriegerischem tzandeln
durchaus untüchtigen, beschaulich bei Bier und Tabak hindämmernden Volk
von Spießern, Träumern und Denkern — diese Legende war zwar aus dem
(8. Iahrhundert ererbt; aber ohne Frau von Stael hätte sie sich nie so stark
einprägen, nie Frankreich so überzeugend in die Lrügerische Sicherheit
wiegen können, aus der rauh die Wirklichkeit von (870 riß.

Viel Naives, Schiefes, durch die Brille vorgefaßter Meinungen Betrach-
tetes ist in ihrem Buch. Sie hat nicht alles verstanden, wovon sie erzählt.
Die Begierde, Napoleon zu beschämen, verfälscht ihr manche Beobachtung.
Sie hat sich zu willig darauf eingestellt, in Verzückungen auszubrechen. Ost
ist ihr Deutschland nur ein Vorwand, um zu predigen; sie hat nicht unge-
straft Pastoren in der mütterlichen wie der väterlichen Ahnenreihe. Mcht
alles behagt ihr, was sie sieht. Aber was sie sehen will, sieht sie maßlos
vergrößert. Die Tugenden, die sie im zeitgenössischen Frankreich am
schmerzlichsten vermißt, Uneigennützigkeit, Verantwortlichkeitsgefühl, Be-

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