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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 20 (2. Juliheft 1917)
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Herter, Hans: Die Lage der Ethik in unserer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0089

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vollständig abgesehen von ihrern Ruf aus anderen Gründen. Aber wäh-
rend deutsche Fachwissenschaft heute wenigstens noch gerade so hoch steht,
wie irgend eine andere auf den rneisten Gebieten der reinen Forschung,
wer bemerkt jetzt irgendwelchen moralischen Eindruck, der von der neueren
deutschen Literatur ausginge? Ls interessiert uns, zu erfahren, was
Deutsche über die meisten Punkte der Wissenschaft und Gelehrsamkeit den-
ken; aber wer kümmert sich viel darum, welche Ansicht ein Deutscher des
großen tzaufens heute über irgendwelche Frage von Recht und Unrecht
entwickelt?" — „Es ist erne nackte Tatsache, daß die ethische deutsche Mei«
nung ihr Prestige verloren hat/

Das sehr billige Geschäft, Hierzu allerlei kritische Randbemerkungen zu
machen, möchte ich diesmal beiseite lassen und zunächst nur darauf hin-
weisen, daß, wenn überhaupt eine „ethische Meinung« heute „ihr Prestige
verloren^ hat, es ganz gewiß nicht nur die deutsche ist. Robertson führt,
da sein Versuch aus den neunziger Iahren stammt, noch Tolstoj, Ibsen,
Zola und andre als Kronzeugen ausländischen ethischen Prestiges an —
heute wäre er da in Verlegenheit. Es fehlt anderen Ländern ebenso an
„moralphilosophischem Nachwuchs" wie uns. Indes, gerade der scheinbare
oder wirkliche Äbernationalismus jenes Verlustes weist vielleicht auf man«
cherlei tiefere Zusammenhänge. ^

«nc^ir finden eine ganze Reihe von Gruppen oder „Kreisen" in Deutsch«
^Vland bemüht, auf irgend eine Weise wieder ethische Gewalten in
Deutschland lebendig zu machen, wie es sie früher gegeben hat. Ich er-
innere als an Beispiele an Eucken, an Windelband — also an sogenannte
„Erneuerer des Idealismus" — oder auf andrer Seite an tzorneffer und
Steiner. Ich für mein Teil habe jedoch den lebhaften Begleiteindruck, daß
dieses Bemühen mindestens insofern erfolglos ist, als es etwa auf Wieder-
gewinn ethischen „Prestiges^ ausgehen könnte. Nicht, als ob sich nicht
einige tzunderte oder Tausende von Deutschen bereit fänden, „mitzu-
machen", aber es bleibt dies eben auf Gruppen beschränkt; der Wider-
hall aus einer ganzen Nation, auf den für das Prestige und den Ein»
fluß auf die Welt alles ankommt, den frühere Ethiker doch fanden, bleibt
heute aus. Nur, weil die heutigen ihren Vorgängern an Gewalt nicht
gleichen? Oder warum sonst?

^>ielleicht hängt das äußere Auftreten der Ethik zusammen mit dem all«
^gemeinen Bedürfnis nach Ethik. Versuchen wir es mit dieser tzypo-
Lhese und vergleichen wir ^800 mit W00. Das Bedürfnis nach Ethik ist
ein Bedürfnis nach Leitung, nach Geführt- und Beratenwerden, nach
Maximen, daneben aber auch ein Bedürfnis nach Rechtfertigung dessen,
was man empfindet, wünscht, erstrebt, oder gar nach großen Zielen über--
haupt. Der „Rationalismus" von ^800 genügte Halbwegs dem ersten, ge-
nügte aber durchaus nicht dem zweiten Bedürfnis, sobald mit den großen
Kriegen neue Wertgefühle auftauchten, in deren Mittelpunkt Vaterland,
Nation, Weltenglück standen. Der Rationalismus leitete und beriet im
einzelnen, und seine Aufgabe war um so leichter, je einfacher, unverwickelter,
gebundener in Äberlieferung der Verlauf des Lebens des Einzelnen war.
Er enthielt aber keine Reflexion auf die großen Erlebnisse, die mit dem
Abbruch der Äberlieferung, mit dem Aufleben großdeutscher Gedanken, mit
der Erweiterung des Gesichtskreises über den Kleinstaat hinaus begannen.

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