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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 21 (1. Augustheft 1917)
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Niebergall, Friedrich: Neue Lebensgemeinschaften
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0142

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schaft erregen und das Denken ersparen und darum Masse anziehen. Dann
wird der Gegner je nachdem zum Feinde Gottes oder der Kirche, zum
Reichsfeinde oder zum Verderber des Volkes; denn nur der eine oder
der andre kann die Wahrheit haben und die Kraft zum Guten. Solches
„Lntweder — oder" ist die logrsche Form der Leidenschaft und der starken
Temperamente, davor jedes „Sowohl wie auch" schwächlich und aus--
sichtslos erscheint. Wo die Wirklichkeit oder die Wahrhaftigkeit den An«
hängern dieses „Nur wir" zu einem gerechtern Urteil über die andern
„abschwächt", da sehn die Rnentwegten Verrat oder sie verstecken wenigstens
ihre gleiche Erkenntnis hinter tönenden Programmsätzen und Festwörtern.
Denn sie wissen> wie stark der scheint, der sich gegen andere immer mit
Grenzen des Gegensatzes und tzasses umgibt, weil die Masse bei ihrem
tzelden nur da Glauben an sich selber siehtz wo er mit jenem „Nur" sich
alleine gelten läßt und alle andern verdammt.

tzinter diesem „Nur wir" steckt das Gefühl oder das Bewußtsein der
eignen Absolutheit als der tief eingewurzelte ideelle Selbsterhal-
tungstrieb, dem es entspricht, alle andern nur relativ zu nehmen oder
überhaupt gar nicht in ihrem Daseinsrechte verstehen zu können. Man
steckt so tief in sich selber, daß man zur Verwunderung aller derer, die den
Einfluß des Intellekts nicht überschätzen, durchaus nicht aus seinem Ich
herauskann. „Wre kann man nur nicht aus Frankfurt sein?" Man ist
doch adlig, man ist doch katholisch, man ist doch deutsch; wie ist es über-
haupt möglich, daß andre aushalten, etwas andres zu sein, als was man
selber ist? So mißt man durchaus naiv jeden andern am eignen Maß-
stab; denn mein Maßstab ist ja natürlich der richtige, weil es eben
mein Maßstab ist — sonst hätte ich ihn doch nicht! Man kann nur nach
sich selber einen andern zu verstehen suchen, weil man ganz und gar nicht
aus sich heraus kann und unfähig bleibt, sich in den andern zu versetzen.
So wie der i st man doch einfach nicht. Es ist also verkehrt und bös, wie
er es macht, denn er ist anders und er macht es anders als wir, als ich.
— Es ist ganz verkehrt, mit sogenannten Verstandesgründen gegen einen
solchen Standpunkt anzugehn; es können die gescheitesten Leute sein, die
so denken; denn solches Denken kommt letzten Grundes aus dem Willen,
und der Intellekt ist nur sein Werkzeug. Solche Leute haben tatsächlich
gerade in dieser ihrer Beschränktheit, in ihrer „Borniertheit" ihre Kraft.
Sie sind sogar oft genug der Gegenstand des Neides für jene Gruppe auf
der andern Seite, für die Leute, welche nicht wagen, den Fuß aufzusetzen
oder etwas als falsch und schlecht hinzustellen, weil sie in jeder andern Eigen-
art sich sozusagen automatisch einnisten und nun aus ihr heraus werten.

Die grammatische Form der Kraft und Leidenschaft der Selbstgewissen
ist der bestimmte Artikel. „Die Engländer sind Krämerseelen; die Agrarier
sind Ausbeuter; die Iuden sind Wucherer; die Kirchgänger sind tzeuchler;
die Sozialdemokraten sind Vaterlandsfeinde; die Arbeitgeber sind Blut-
sauger". Sind denn nicht von solchen allgemeinen Rrteilen Reden und
Zeitungen voll? Mangelnde Kenntnis und starke Leidenschaft halten sich
mit Ausnahmen und Unterschieden nicht auf: sie lieben den bestimmten
Artikel, denn der hat Kraft und Nachdruck. Die einen sind weiß und die
andern sind schwarz; die guten sind natürlich „wir" und die bösen sind
die andern. So geht's flottweg aus Mund und Feder, und die liebe
Menge stimmt freudig zu, denn so empfindet sie auch, in Bausch und Bogen,
ohne Prüfung an der lästigen Wirklichkeit, die sie zum Beobachten und

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