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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

DOI Heft:
Heft 21 (1. Augustheft 1917)
DOI Artikel:
Carlowitz, Ric von: Vom Erlebnis des Krieges
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0154

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Wahrer, wie nach innen, ist das Leben auch nach außen geworden. Der
politische tzimmel, der für uns jahrzehntelang mit den dicksten Wolken gut-
mütiger Selbsttäuschung verdeckt war, hat nach dem reinigenden Gewitter
dieses Krieges eine erfrischende Aufklärung gewonnen. Von dem Morali-
schen ganz abgesehen — das sich bekanntlich immer von selbst versteht —,
wer empfände nicht die ästhetische Aufklärung darin, daß unsre Feinde
mit so echten Farben und eindeutigen Strichen sich selbst in das
historische Bilderbuch dieses Krieges eingezeichnet haben? Daß der
englische Cant die Baralongfratze dulden muß, daß Voltaires Wort
von seinen Landsleuten: „Moitie singe et moitie tigre" begreiflich
ward, wie bei so vielen Russen das bekannte Wort: „Grattez le
Russe et vous trouverez le barbare!^? Selbst der Treubruch Italiens
und Rumäniens erscheint in diesem Zusammenhange als eine Tat der
politischen Reinlichkeit, die wir nicht so sehr „als retardierendes Moment",
das unser Drama wahrlich nicht mehr nötig hatte, wie vielmehr als ein
Gebot der dramatischen Konsequenz begrüßt haben. Wir fühlen nach so
beispiellosen Opfern und Grfolgen das Verlangen und die Kraft in uns,
nach allen Seiten die Gntscheidung und damit klare, „schöne" Verhältnisse
auch rm Politischen zu erreichen. In der inneren Politik hat der höhere
Standpunkt des Krieges dazu verholfen, alles Einzelne in seiner totalen
Bedingtheit und davon her wieder in seinem selbständigen Wert freier zu
würdigen. Aber auch die nächsten und unscheinbarsten Dinge des täglichen
Lebens: das Brot, das wir essen, der Rock, den wir tragen, das Dach über
unserm Kopfe, sie sind nicht mehr Selbstverständlichkeiten, sondern durch-
aus ernsthafte Größen, mit denen wir zusammenleben wie in der gemüt-
vollen Enge eines Dürerschen tzolzschnitts. Sie sind nicht etwa selber
schön. Aber, daß sie aus unbeachteten Gewohnheiten, Gewöhnlichkeiten
wieder Erlebnis geworden sind, das macht die Schönheit, die nun-
mehr unser ist.

Es ist klar, daß damit der Begriff der Schönheit eine Wandlung er-
fahren hat. Sie ist nicht mehr eine Schönheit der Sinnenfreude, sondern
der Andacht, als des gesammelten und gesteigerten Ausdrucks unsrer
gesamten seelischen Anlage. Damit erweitert sich der Begriff von seiner
eigentlichen ästhetischen Anwendung auf eine umfassendere Bedeutung, die
in dem Ergreifen der Gesamtpersönlichkeit einen religiösen Einschlag
bekommt. Auch die breiten Kreise, die nach wie vor einer bekenntnis-
mäßigen Religiosität widerstreben, fühlten und fühlen auf einmal in
diesem Kriege eine umwälzende seelische Ergriffenheit, die durchaus reli-
giöser Art ist und zugleich, weil sie einer auf anderem Wege unterdrückten
Sehnsucht entgegenkommt, als Vollendung, das heißt eben als Schönheit
empfunden wird: ein überpersönliches, seelisches Kraftgefühl durch den Zu-
sammenschluß in einer gleichgesinnten Gemeinde, und eine freiwillige Ge-
bundenheit an eine unbekannte, gläubig erfaßte Macht.

Das Zeitalter des Individualismus hatte die religiöse Beseligung der
Gemeinschaft fast verschüttet. Wir hatten unser Innenleben bis in die ent-
legensten „Differenzierungen" ausgebildet, durch die wir uns schmeichelten,
eine endlose Bereicherung erfahren zu können, hatten uns gewöhnt, unsre
eigenen so ins letzte verfeinerten Rücksichten und Bedürfnisse als Gesetz
und Maß aller Dinge anzusehen. Aber es war ein Kartenhaus, errichtet
auf der mathematischen Punktgröße des Ich. Seine ruhige Festigkeit kann
es erst bewähren auf der breiten Grundlage der lebendigen geistigen Wechsel«
 
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