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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 21 (1. Augustheft 1917)
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Freizügiger Nationalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0161

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Entschädigungen für ihre genreinnützige Arbeit am Wegziehen zu ver«
hindern. Ein wirklich vollberechtigtes Mitglied der Gesellschaft aber wird
der Bauer nie werden, solange ihn die landwirtschaftlichen Verhältnisse
noch so stark an die einmal in Besitz genommene Scholle fesseln wie
heute. Die Kultur arbeitet, wie sich in den Idealen der Bodenreformer
ausspricht, darauf hin, den Boden wieder in freies Gut für alle Menschen
zu verwandeln. „Der Mensch", sagt Silvio Gesell, „braucht die ganze
Erde, und zwar braucht jeder einzelne Mensch die ganze Erde ungeteilt.
In Tälern und auf Inseln wohnende oder durch Mauern und Zölle ab«
geschlossene Völker verkümmern, sterben aus. Kandelsvölker dagegen, die
mit allen Produkten der Erde ihr Blut würzen, bleiben frisch, vermehren
sich und erobern die Welt. Die leiblichen und geistigen Bedürfnisse der
Menschen senken ihre Wurzeln in jedes Krümchen der ganzen Erdrinde;
sie umfassen die Erde wie mit Polypenarmen. . . . Der Bodenreformer
beansprucht die ganze Lrdkugel, er betrachtet sie als ein Glied des Men--
schen, als ein untrennbares, anatomisches tzauptorgan, und zwar dieganze
Erdkugel, nicht einen Teil von ihr; und die Frage, die er zu beantworten
hat, ist die, wie jeder in den Vollgebrauch dieses tzauptorgans gelangen
kann." Denkbar wäre wohl ein solches allgemeines Verhältnis zwischen
dem Menschen und der Erdoberfläche, wenn der Sieg des Genossenschafts-
prinzips das Eigentum an den Produktionsmitteln um alle ausbeutende
Kraft gebracht hätte; dann gäbe es wirkliche Freizügigkeit, da jeder ohne
Kapital allerwärts nach seinem Arbeitsvermögen über die Früchte der Lrde
verfügen könnte — das „Recht auf den vollen Arbeitsertrag" wäre ver-
wirklicht.

Das ist ein fernes, nie völlig erreichbares Ziel, aber jeder Fortschritt in
der Freizügigkeit bringt uns ihm näher. Darum kann sich auch nur ein
Aationalismus, der mit allen die Freizügigkeit fördernden Bestrebungen
im Bunde ist, dauernd behaupten. Der freizügige Aationalismus wider-
spricht nicht der Liebe zur tzeimat; aber er will nicht, daß zufällige tzerren
der heimatlichen Erde diese Liebe wirtschaftlich ausbeuten.
Um so weniger, als diese tzerren noch Butznießer von Abhängigkeitsver-
verhältnissen sind, die einst unstet umherschweifende Nomadenhorden, von
denen sie zum Teil noch abstammen, mit dem „Recht" ihrer Waffen be-
gründeten. Für diesen neuen Nationalismus sind persönliche gesellschaft-
liche Beziehungen maßgebend, nicht die Beziehungen zwischen den Linzelnen
und den Eigentumsrechten der Besitzer der vaterländischen Erde. Gibt es
ein Volk, das seine tzeimat mehr liebte, als das chinesische? Der chinesische
Auswanderer pflegt die Gesellschaft, mit der er als solcher im Vertragsver-
hältnis steht, zu verpflichten, ihn, wenn nicht lebendig, so tot wieder in die
tzeimat zurückzubringen. Und doch gibt es kein Volk, das ein stärkerer
Wandertrieb beseelte, als wiederum das chinesische. Ohne diesen ließe sich
seine große Verbreitung gar nicht erklären. In allen Winkeln der Erde
stößt man heute auf Vorposten des Chinesentums, obgleich ihrer Zuwun«
derung überall im Auslande tzindernisse bereitet werden, weil man in
ihnen Vorboten einer Masseneinwanderung sieht. Die russische Regie-
rung hat sogar in Sibirien die Beschäftigung chinesischer Arbeiter ver-
boten, weil sie fürchtet, daß sonst ihre äußerst betriebsame Kolonisation
mit dem Vordringen der gelben Rasse nicht Schritt halten könnte. In
China selbst gibt es überall fortwährend ein Ein- und Ausschwärmen von
Menschen von und nach näheren oder ferneren Orten des Riesenreiches,

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