Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 35.1914-1915

DOI Artikel:
Raphael, Max: Der Tastsinn in der Kunst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7013#0167

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
r

KUNSTGEWERBESCHULE HAMBURG.

D.W.Ii.-AUSSTELLUNG »SCHULER-ARBEITEN«

DER TASTSINN IN DER KUNST.

,i l~^\er Tastsinn ist psychologisch der eigent-
_L_y liehe Realitätssinn; nur was wir greifen
können oder könnten, scheint uns die volle
Wirklichkeit zu besitzen. Gewiß sind die Lein-
Wand und der Marmor greifbar; aber so wenig
wie an der Buchseite, die das Gedicht trägt,
ist an ihnen das, was getastet wird, das Kunst-
Werk — dieses vielmehr liegt ausschließlich in
den Formen, die dem Gesicht und keinem an-
deren Sinn zugänglich sind. Durch diese Ab-
lösung der Sichtbarkeit und Hörbarkeit von
der sonst stets mit ihr verbundenen Tastbar-
keit, die uns allein die empirische Wirklichkeit
zu garantieren pflegt, erhält das bloß ästhetisch
wirksame jene Distanz von der Wirklichkeit;
nach der letzteren zu fragen, haben wir tat-
sächlich innerhalb des ästhetischen Gebietes
kein Interesse, weil dieses Gebiet von vorn-
herein den Sinn ausschließt, der uns als die
einzige Brücke zur Realität gilt."

Diese Sätze stehen in den Kantvorlesungen
des bekannten Professors der Philosophie
Georg Simmel. Sie geben mit der aus ihnen
sprechenden Verachtung des Tastsinns die
Anschauung des größten Teiles der gegenwär-
tigen Menschheit. Wenn von Zeit zu Zeit die

bedeutendsten Kunsthistoriker vor der Ver-
rohung des Auges warnen und von der Notwen-
digkeit einer optischen Kultur sprechen, um
wieviel eher und nachdrücklicher müßte man
für die Pflege und Kultivierung des Tastsinns
eintreten! Denn er ist nicht nur wegen seiner
Verbreitung durch den ganzen Körper und
seiner Konzentrierung in jenem Organ, das da-
zu bestimmt ist, den ganzen geistig-seelisch-
anschaulichen Gehalt des Künstlers noch ein-
mal sammelnd in die spezifische Materie über-
zuleiten, sondern vor allem wegen der Kunst,
auf die er gerichtet ist, ein vornehmer und
reiner Sinn, der die vorzüglichste Ausbildung
verdient. Nur weil die meisten Menschen
Barbaren des Getastes sind, führt die Plastik
ein so kärgliches, fast heimatloses Dasein in
unserer Zeit, sie, die bei Griechen und Ägyptern
die Königin der Künste war und es nach ihrem
innersten Wesen, nach der Art wie sie als
Form den Stoff tilgt, zu sein berufen ist. Es
wird sich zeigen lassen, daß der Inhalt jener
leider so repräsentativen Sätze dem sachlichen
Gehalt nach falsch, der philosophischen An-
schauung nach — unphilosophisch ist.

Der Tastsinn ist ein sehr zusammengesetztes

H5
 
Annotationen