Fortschritt im Künstlerischen.
entw: architekt karl j. mossner—berlin. haus lustig. speisezimmer: kaminwand mit eingebauten wand-
schränken für gläser und porzellan. holzarbeiten anton pössenbacher—münchen-berlin.
anordnung anständige Buch. Der Einband ent-
sprach guter handwerklicher Überlieferung, das
Papier war von brauchbarer Qualität. Dreißig,
vierzig Jahre später sehen wir auf dem Bücher-
markte überall die Kennzeichen wüster Bar-
barei : ordinäre Schriften, gemeines Papier, ge-
schmacklose, schwindelhafte Einbände. Man
sagt auch da, gewissermaßen entschuldigend:
die Maschine ! der Zwang zu billiger Massen-
produktion! Aber dieselben Stigmen des Ver-
falls finden sich bei sehr kostspieligen Leist-
ungen, bei denen keineswegs gespart werden
sollte. Also nicht nur wirtschaftliches Nicht-
können, sondern die vollkommenste, be-
schämendste Ignoranz, die äußerste Niedrigkeit
handwerklicher Gesinnung. Also ein vollgültiges
Beispiel für einen Rückfall in Barbarei. Gerade
weil wir mittlerweile diesen Tiefstand wieder
überwunden haben, sehen wir mit größter Klar-
heit: was auf dem Gebiete der Buchkultur im
19. Jahrhundert verloren gegangen war, ist
nicht bloß das Können gewesen, sondern
auch das Streben; nicht nur das Wissen,
sondern auch das Gewissen; nicht nur die
gute Wirklichkeit, sondern auch das Ideal.
Man muß sich ein solches Beispiel recht innig
vor Augen halten. Wir leben im Vertrauen auf
unseren oft berufenen „Fortschritt" bequem
und sicher dahin und begegnen der kulturellen
Arbeit, vorab dem Ringen auf den Ge-
bieten der Kunst und der Geschmacks-
Pflege, als einer „läßlichen" Sache. Aber
jeder wahrhafte Kulturmensch weiß es: Kultur
ist nicht eine feste, tote Sache, sondern
ein ständiges Arbeiten und Teilnehmen
Aller an einem ununterbrochenen Be-
mühen. Die „Wildheit" (so nannte es Höl-
derlin gerne), der Verfall lauern ewig an den
Toren der Kultur. Keine der heutigen stolzen
Kulturnationen ist unter allen Umständen gegen
einen Rückfall in Barbarei gesichert. Und jedes
Volk und jeder Einzelne muß täglich und stünd-
lich durch eigene Veredlung dagegen
kämpfen...............wilhelm michel.
376
entw: architekt karl j. mossner—berlin. haus lustig. speisezimmer: kaminwand mit eingebauten wand-
schränken für gläser und porzellan. holzarbeiten anton pössenbacher—münchen-berlin.
anordnung anständige Buch. Der Einband ent-
sprach guter handwerklicher Überlieferung, das
Papier war von brauchbarer Qualität. Dreißig,
vierzig Jahre später sehen wir auf dem Bücher-
markte überall die Kennzeichen wüster Bar-
barei : ordinäre Schriften, gemeines Papier, ge-
schmacklose, schwindelhafte Einbände. Man
sagt auch da, gewissermaßen entschuldigend:
die Maschine ! der Zwang zu billiger Massen-
produktion! Aber dieselben Stigmen des Ver-
falls finden sich bei sehr kostspieligen Leist-
ungen, bei denen keineswegs gespart werden
sollte. Also nicht nur wirtschaftliches Nicht-
können, sondern die vollkommenste, be-
schämendste Ignoranz, die äußerste Niedrigkeit
handwerklicher Gesinnung. Also ein vollgültiges
Beispiel für einen Rückfall in Barbarei. Gerade
weil wir mittlerweile diesen Tiefstand wieder
überwunden haben, sehen wir mit größter Klar-
heit: was auf dem Gebiete der Buchkultur im
19. Jahrhundert verloren gegangen war, ist
nicht bloß das Können gewesen, sondern
auch das Streben; nicht nur das Wissen,
sondern auch das Gewissen; nicht nur die
gute Wirklichkeit, sondern auch das Ideal.
Man muß sich ein solches Beispiel recht innig
vor Augen halten. Wir leben im Vertrauen auf
unseren oft berufenen „Fortschritt" bequem
und sicher dahin und begegnen der kulturellen
Arbeit, vorab dem Ringen auf den Ge-
bieten der Kunst und der Geschmacks-
Pflege, als einer „läßlichen" Sache. Aber
jeder wahrhafte Kulturmensch weiß es: Kultur
ist nicht eine feste, tote Sache, sondern
ein ständiges Arbeiten und Teilnehmen
Aller an einem ununterbrochenen Be-
mühen. Die „Wildheit" (so nannte es Höl-
derlin gerne), der Verfall lauern ewig an den
Toren der Kultur. Keine der heutigen stolzen
Kulturnationen ist unter allen Umständen gegen
einen Rückfall in Barbarei gesichert. Und jedes
Volk und jeder Einzelne muß täglich und stünd-
lich durch eigene Veredlung dagegen
kämpfen...............wilhelm michel.
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